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Niklas
ist ein schwieriger Fall. Wir hatten bislang selten ein so gestörtes
Kind, das gleichzeitig so normal ist. Wissen Sie, aggressive Kinder sind
hier die Regel, selbst wenn sie zunächst aus anderen Gründen im Heim
landen. Wir sind ja wie eine große Familie. Und je enger die Kinder
altersmäßig beieinander sind, desto intensiver sind Freundschaften und
Streit.
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Die
meisten sind allerdings, bevor sie dreizehn-vierzehn werden, ziemlich
durchschaubar. Die brauchen ihre Konflikte zum Lernen und Abreagieren. Bei
Niklas sieht alles nur spontan aus. In den Situationen, in denen er
ausrastet, findet man bei ihm nicht ansatzweise einen sinnvollen Grund. Im
Gegenteil: Er attackiert andere in ihren schwächsten Momenten. Er kann
warten. Er kann über Tage völlig unauffällig sein, nett, fast charmant,
hilfsbereit, ziemlich lustig. Ich meine, er kann das, er hat
die Gaben und die Kompetenzen dafür. Andere Kinder müssen sich sofort
abreagieren, da eskaliert jeder Streit in Sekunden zu wüsten Szenen.
Niklas frisst alles in sich rein, geht weg, verkneift sich die Tränen.
Aber irgendwann revanchiert er sich, wenn niemand es erwartet. Leider vor
allem, wenn es für die Gruppe besonders schmerzhaft ist, bei bestimmten
Anlässen, zum Beispiel Geburtstagen von anderen, wenn Zeitdruck besteht,
nachts, wenn nur eine Nachtwache im Haus ist, oder tags, wenn Besucher da
sind oder eine Erzieherin gerade neu angefangen hat. Mittlerweile weiß
ich, zu welchen Zeiten ich besonders aufpassen muss.
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Aber
vorab kommt man mit ihm zu keiner Einigung. Dann teilt er sich nicht mit,
streitet Konfliktgegenstände ab, beharrt auf seiner Sichtweise, die er
ziemlich geschickt vertreten kann. Er dreht einem die Worte im Mund um, missversteht
alles absichtlich, hält die Heimregeln für einen unzulässigen Zwang und
leugnet alle Gefühle, an denen er sich aufrichten könnte, wie Stolz oder
Ehrgeiz oder Reife, - was weiß ich. Ich bin mir sicher, dass er das alles
versteht und diese Gefühle hat. Vielleicht sogar stärker, und deshalb
ist seine Wut und Enttäuschung so groß. Aber er lässt sich einfach
nicht helfen! |
Um
keinen Hirngespinsten nachzujagen,
vergessen wir nicht, was unseren menschlichen
Verhältnissen angemessen ist. Die Menschheit hat
ihren Platz in der Ordnung der Dinge: die Kindheit
den ihren in der Ordnung des menschlichen Lebens.
Man muss den Erwachsenen als Erwachsenen
und das Kind als Kind betrachten.
Jedem seinen Platz zuweisen, ihn darin festigen
und die Leidenschaften nach der Natur des Menschen
ausrichten, das ist alles, was wir für sein Wohl
tun können. Alles übrige hängt von fremden
Ursachen ab, die nicht in unserer Macht stehen.
Jean-Jacques
Rousseau
Emile oder über die Erziehung (1762)
UTB (1971) S.56 |
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Wir
alle hier im Heim sind nur seine Verstärker, machen sein Glück größer
durch unsere Anwesenheit, aber auch seinen Schmerz und sein Elend, wenn er
uns selbst in seiner Einsamkeit noch zurückweisen kann. So ist er auch
mit seiner Familie umgegangen, ich glaube, er hat sie fast absichtlich
zerstört, um ihr nachfühlen zu können. Ich weiß, dass das hart klingt,
aber wenn Niklas eine Störung hat, dann die, dass er sein Glück nicht
zulassen kann. Und das der anderen auch nicht, und das macht ihn oft so
unerträglich. |
Ich denke, er ist schon richtig hier, aber wirklich helfen konnten wir
ihm bislang nicht. Unser Auftrag bringt uns in ein Dilemma. Einerseits
glaube ich, dass er hier Kind sein sollte, denn seine Eltern haben ihn mit
ihrer Ordentlichkeit einfach überfordert. Sie sollten mal seinen Bruder
erleben, der ist mit dreizehn obervernünftig wie ein Erwachsener!
Andererseits ist Niklas auch hier, weil er zuhause nicht bleiben konnte,
denn sein Verhalten muss sich ändern. Er muss lernen, Bindungen
einzugehen, irgend jemandem wirklich zu vertrauen. Er hat uns Erzieher
total gespalten. Seit er da ist, sprechen wir in Supervision nur noch von
ihm und unserem Verhältnis zu ihm. Selbst in Abwesenheit gibt er allem
eine unerträgliche Intensität. Lieben oder hassen, dass ist alles, was
wir fertig bringen. Dabei ist keine Seite dichter an ihm dran. Manchmal
glaube ich zu spüren, wie unendlich allein er ist. Aber wenn er die Tür
nicht von innen aufmacht, haben wir keine Chance! |
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