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für Familien mit verhaltensauffälligen Kindern
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Verhaltenstraining
Dr. Johannes Streif

 

 

 

 




 

 

 

Niklas ist ein schwieriger Fall. Wir hatten bislang selten ein so gestörtes Kind, das gleichzeitig so normal ist. Wissen Sie, aggressive Kinder sind hier die Regel, selbst wenn sie zunächst aus anderen Gründen im Heim landen. Wir sind ja wie eine große Familie. Und je enger die Kinder altersmäßig beieinander sind, desto intensiver sind Freundschaften und Streit.

 

 

Die meisten sind allerdings, bevor sie dreizehn-vierzehn werden, ziemlich durchschaubar. Die brauchen ihre Konflikte zum Lernen und Abreagieren. Bei Niklas sieht alles nur spontan aus. In den Situationen, in denen er ausrastet, findet man bei ihm nicht ansatzweise einen sinnvollen Grund. Im Gegenteil: Er attackiert andere in ihren schwächsten Momenten. Er kann warten. Er kann über Tage völlig unauffällig sein, nett, fast charmant, hilfsbereit, ziemlich lustig. Ich meine, er kann  das, er hat die Gaben und die Kompetenzen dafür. Andere Kinder müssen sich sofort abreagieren, da eskaliert jeder Streit in Sekunden zu wüsten Szenen. Niklas frisst alles in sich rein, geht weg, verkneift sich die Tränen. Aber irgendwann revanchiert er sich, wenn niemand es erwartet. Leider vor allem, wenn es für die Gruppe besonders schmerzhaft ist, bei bestimmten Anlässen, zum Beispiel Geburtstagen von anderen, wenn Zeitdruck besteht, nachts, wenn nur eine Nachtwache im Haus ist, oder tags, wenn Besucher da sind oder eine Erzieherin gerade neu angefangen hat. Mittlerweile weiß ich, zu welchen Zeiten ich besonders aufpassen muss.

 

Aber vorab kommt man mit ihm zu keiner Einigung. Dann teilt er sich nicht mit, streitet Konfliktgegenstände ab, beharrt auf seiner Sichtweise, die er ziemlich geschickt vertreten kann. Er dreht einem die Worte im Mund um, missversteht alles absichtlich, hält die Heimregeln für einen unzulässigen Zwang und leugnet alle Gefühle, an denen er sich aufrichten könnte, wie Stolz oder Ehrgeiz oder Reife, - was weiß ich. Ich bin mir sicher, dass er das alles versteht und diese Gefühle hat. Vielleicht sogar stärker, und deshalb ist seine Wut und Enttäuschung so groß. Aber er lässt sich einfach nicht helfen!

Um keinen Hirngespinsten nachzujagen,
vergessen wir nicht, was unseren menschlichen
Verhältnissen angemessen ist. Die Menschheit hat
ihren Platz in der Ordnung der Dinge: die Kindheit
den ihren in der Ordnung des menschlichen Lebens.
Man muss den Erwachsenen als Erwachsenen
und das Kind als Kind betrachten.
Jedem seinen Platz zuweisen, ihn darin festigen
und die Leidenschaften nach der Natur des Menschen
ausrichten, das ist alles, was wir für sein Wohl
tun können. Alles übrige hängt von fremden
Ursachen ab, die nicht in unserer Macht stehen.

Jean-Jacques Rousseau
Emile oder über die Erziehung (1762)
UTB (1971) S.56

 

 

Wir alle hier im Heim sind nur seine Verstärker, machen sein Glück größer durch unsere Anwesenheit, aber auch seinen Schmerz und sein Elend, wenn er uns selbst in seiner Einsamkeit noch zurückweisen kann. So ist er auch mit seiner Familie umgegangen, ich glaube, er hat sie fast absichtlich zerstört, um ihr nachfühlen zu können. Ich weiß, dass das hart klingt, aber wenn Niklas eine Störung hat, dann die, dass er sein Glück nicht zulassen kann. Und das der anderen auch nicht, und das macht ihn oft so unerträglich.

 

Ich denke, er ist schon richtig hier, aber wirklich helfen konnten wir ihm bislang nicht. Unser Auftrag bringt uns in ein Dilemma. Einerseits glaube ich, dass er hier Kind sein sollte, denn seine Eltern haben ihn mit ihrer Ordentlichkeit einfach überfordert. Sie sollten mal seinen Bruder erleben, der ist mit dreizehn obervernünftig wie ein Erwachsener! Andererseits ist Niklas auch hier, weil er zuhause nicht bleiben konnte, denn sein Verhalten muss sich ändern. Er muss lernen, Bindungen einzugehen, irgend jemandem wirklich zu vertrauen. Er hat uns Erzieher total gespalten. Seit er da ist, sprechen wir in Supervision nur noch von ihm und unserem Verhältnis zu ihm. Selbst in Abwesenheit gibt er allem eine unerträgliche Intensität. Lieben oder hassen, dass ist alles, was wir fertig bringen. Dabei ist keine Seite dichter an ihm dran. Manchmal glaube ich zu spüren, wie unendlich allein er ist. Aber wenn er die Tür nicht von innen aufmacht, haben wir keine Chance!

 

 

 

 

 

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