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für Familien mit verhaltensauffälligen Kindern
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Verhaltenstraining
Dr. Johannes Streif

 

 

 

 




 

 

 

Sehr geehrter Herr Streif!

Bitte entschuldigen Sie, dass ich auf Ihre Anfrage bezüglich eines Interviews für Ihre Seminararbeit nur brieflich antworten kann. Leider ist es mir aus zeitlichen Gründen nicht möglich, einen der von Ihnen vorgeschlagenen Termine wahrzunehmen. Ich hoffe allerdings, dass meine schriftliche Auskunft Ihnen eine Hilfe ist und stehe für telefonische Rückfragen gerne zur Verfügung. In der Anlage finden Sie zudem einige Protokolle vom Sorgerechtsverfahren, die Niklas betreffen. Vielleicht sind sie Ihnen eine nützliche Ergänzung.

 

 

Sie fragen nach meinem Verhältnis zu meinen Kindern. So unterschiedlich, wie beide sind, so unterschiedlich ist auch meine Beziehung zu ihnen. Martin ist seinem Wesen nach ruhig, konzentriert und vernünftig. Niklas dagegen war bereits während der Schwangerschaft meiner Frau ein unruhiges Kind, so dass wir beide und die Ärzte von der einfachen Geburt damals fast überrascht waren. Es stellten sich auch bald allerlei Schwierigkeiten ein, er aß nicht, schrie häufig und durchlebte eine ungewöhnlich lange und starke Trotzphase. Ich muss gestehen, dass ich das meiste aus dieser Zeit von den Berichten meiner geschiedenen Frau kenne, da ich zeitlich durch die Arbeit sehr gebunden war. Ich selbst habe ihn lange Zeit sehr interessiert und bemüht erlebt. Er hatte allerdings immer etwas Unkonventionelles an sich, zeigte auch bei Gehorsam kein Verständnis für Ordnung und Regeln. Er ist zweifellos intelligent, sehr kreativ, doch leider auch in destruktiver Hinsicht. Seine Verhaltensprobleme in der Schule und die Ausbrüche zuhause sind nun nicht zu leugnen. Hier muss ich die Erklärung den Experten überlassen, denn ich verstehe diese Entwicklung nicht. Meine Beziehung zu Niklas hat das natürlich sehr beeinträchtigt.

 

Ich gehe davon aus, dass meine Frau Sie über den eigentlichen Scheidungsauslöser informiert hat. Es ist dies sicher nicht der einzige Grund für unsere Trennung gewesen, doch konnte sie mir nicht verzeihen, dass ich Niklas am Abend seines ersten Wutanfalls schlagen wollte. Ich habe nie Gewalt gegen meine Kinder gebraucht und schäme mich für meinen eigenen Kontrollverlust sehr. Ich konnte es einfach nicht ertragen, dass mein Verständnis und meine Nachsicht Niklas nicht erreichten. Ich wertete sein Verhalten damals - wohl fälschlich - als Trotz und Undank. Aus meiner eigenen Familie kannte ich so etwas nicht. Es war mir als Kind stets undenkbar erschienen, mich gegen meinen Vater aufzulehnen. Dabei wurde ich viel strenger erzogen als Niklas, was ich meinen Eltern im Ergebnis nicht vorwerfen kann. Natürlich habe ich in der Folgezeit eingesehen, dass Niklas Verhalten einer Krankheit entspringt. Die Einsicht konnte meine Frau allerdings nicht dazu bewegen, die Scheidungspläne aufzugeben. Ich sehe in meinem schwierigen Verhältnis zu Niklas sicher einen Grund für unsere gescheiterte Ehe.

Im Waisenhaus des Ritters Paulet fanden
jeden Morgen Gerichtssitzungen statt:
»Wir fanden alle Schüler in vollkommener
Schlachtordnung unbeweglich und
stillschweigend vor.
Der Major, ein junger Edelmann
von 16 Jahren, war aus dem Glied getreten,
das Schwert in der Hand;
auf seinen Befehl setzte sich der Trupp
im Doppelschritt in Bewegung,
um einen Kreis zu bilden.
Der Rat versammelte sich in der Mitte;
jeder Offizier erstattete für die letzten
24 Stunden Bericht für seinen Trupp.
Die Angeklagten konnten sich verteidigen;
man vernahm die Zeugen; man beriet
und, nachdem über die Urteile Einvernehmen
erzielt worden war, verkündete der Major
mit lauter Stimme die Zahl der Schuldigen,
die Art der Delikte und die angeordneten Strafen
Der Trupp marschierte in größter Ordnung ab.«

P. de Rochemont (1788)
(Journal de Genève, 5.1)

Michel Foucault
Überwachen und Strafen
Suhrkamp (1977) S.229f.

 

 

Ich bin mir nicht sicher, ob der Weg, den meine Frau nun eingeschlagen hat, der richtige ist. Ich unterstütze sie in ihren Entscheidungen und stelle mich der Elternarbeit des Heimes. Realistisch betrachtet führte die jetzige Lösung mit Scheidung und Niklas Heimunterbringung aber zu einer Stigmatisierung der Familienmitglieder. Dies mag nicht für alle sozialen Schichten und alle Zeiten zutreffen, doch uns hat das Geschehen der letzten Jahre sehr verändert. Meine geschiedene Frau zieht durch ihre Berufstätigkeit vielleicht den größten Gewinn aus der neuen Situation. Ich gestehe freimütig, dass ich an diesbezügliche Wünsche ihrerseits nie dachte. Wirtschaftlich bestand ja auch keinerlei Anlass. Selbst jetzt, nach der Scheidung, müsste sie nicht arbeiten, was unter Umständen Martin zugute kommen würde. Ihn sehe ich als den eigentlich Leidtragenden der Familienauflösung. Ich glaube, seine Mutter überschätzt seine Stärke, - sie verlässt sich zu sehr auf ihn. Vielleicht bin ich auch nur durch Niklas psychologisiert und übersensibilisiert. Ich hatte zuvor nie geglaubt, einmal ein verhaltensgestörtes Kind zu haben!

 

Ihre zweite Frage nach meinem heutigen Befinden lässt sich kaum leichter beantworten. Es ist in erster Linie durch ein Gefühl großer Ohnmacht gekennzeichnet. Welchen Einfluss habe ich noch auf das Schicksal meiner Kinder? Was geschehen ist, tut mir sehr leid! Neben allen erkannten Konditionen wie Niklas Krankheit oder der eigenen Familiengeschichte trage ich doch eine große Schuld. Ich frage mich täglich, was ich in meiner Ehe, mit meinen Kindern hätte anders machen müssen, um sie nicht zu verlieren. Für kämpferische Auflehnung finde ich allerdings keine Zeit. Unglücklicherweise zeigen die Vorwürfe meiner Frau gegen die Vereinnahmung unserer Familie durch meine Arbeit und meine Eltern späte Wirkung. Als sie noch sinnvoll waren, schenkte ich ihnen keine Beachtung. Jetzt fühle ich mehr und mehr, wie ich meinen Eltern einen Teil der Schuld aufbürden möchte. Dazu scheinen mich nicht zuletzt die Psychologen einzuladen. Der partnerschaftliche Umgang mit dem Heimpersonal kann mir meine Schuldgefühle aber nicht nehmen. Gerade ihre Professionalität erschreckt und beschämt mich. Ich bin es nicht gewohnt, zu verlieren. Niklas gestörte Entwicklung kratzt an meinem Selbstbewusstsein. Ich habe mich deshalb ganz dem Beruf zugewandt.

 

 

Meine Frau hatte sich bereits früher gelegentlich über meine Gefühllosigkeit beklagt, - so nannte sie es. Der Vorwurf hatte mich immer sehr getroffen, denn ich sehe mich selbst nicht als gefühllos. Doch wenn ich zurückdenke an meine Kinderzeit und später, dann erinnere ich mich an ein ständiges Gefühl der Einsamkeit. Meine Eltern waren für mich und meine Schwester stets mit viel Verständnis da. Es galt ein strenger Familienkodex, der niemanden aus seinen Pflichten entließ und größere Fehler im Leben verunmöglichte. Oft wollte ich aber kein Verständnis, sondern Widerstand, Auseinandersetzung, offenen Konflikt. Ich bin kein Schriftsteller, weshalb ich es etwas hölzern-poetisch formuliere: Ich wollte die Liebe hinter der Liebenswürdigkeit. Ich wollte keinen Handel 'Gehorsam um Zuneigung'. Weil ich über diese Grenze nicht hinweggekommen bin, blieb immer ein letztes bisschen Misstrauen gegen meine Eltern, gegen ihre Absichten und ihre Zuverlässigkeit. Dieses Misstrauen hat mich kühl und vorsichtig werden lassen. Niklas hat die Grenze überschritten. Ihn jetzt zu lieben, jetzt zu halten, sehe ich als die eigentliche Herausforderung der gegebenen Situation. Ich will versuchen, sein Vertrauen zurückzugewinnen!

 

Vielleicht habe ich Ihnen mit diesen Zeilen meine Sicht der Dinge näher bringen können. Bitte entschuldigen Sie nochmals, dass ich Ihr freundliches Gesprächsangebot ausschlagen musste. Für Ihre Seminararbeit und Ihr weiteres Studium wünsche ich Ihnen viel Erfolg.

Ihr Thomas S.

 

 

 

 

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