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für Familien mit verhaltensauffälligen Kindern
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Verhaltenstraining
Dr. Johannes Streif

 

 

 

 




 

 


 

Der dritte Begriff, Institution, versucht, das unspezifischste der Systeme zu erfassen, die an der Fremdunterbringung von Kindern beteiligt sind. Es kann nicht unabhängig von den beiden vorstehend beschriebenen verstanden werden, denn es ist die Negation der Familie und die Manifestation der Fürsorge. Ich habe Fürsorge dem Wesen nach als Struktur dargestellt, welche in gesellschaftlichem Auftrag stellvertretenden Normenvollzug garantiert. In ihren angedeuteten Konditionen ist sie allerdings bereits als Institution gegenwärtig. Die Unterscheidung von Fürsorge und Institution ist dennoch sinnvoll, insofern erstere ein intendierter gesellschaftlicher Ausdruck ist, zweitere eine abgeleitete Hypostasierung. Wen oder was immer man unter Gesellschaft verstehen mag - die "volonté générale" Rousseaus, Staatsverfassung, Gesetze oder einfach eine Versammlung von Menschen unter einem beliebigen Zeichen -, in ihren Konventionen ist sie ein negativer Begriff der individuellen Freiheit. Sie vermag an die Stelle des Individuums nichts Neues zu setzen. Ihr Auftrag ist folglich stets eine Ausgrenzung: Verbot von Verhältnissen, die Bestrafung des Verhaltens, das ihrer Konvention, dem Gemeinen  der Gemeinschaft, widerspricht. Das Kriterium der Gesellschaft ist das Ungenügen ihrer Mitglieder. Fürsorge beginnt in sozialem Auftrag, wo das Versagen der Sorge des Einzelnen konstatiert wird. Wie Fürsorge geschieht, ist nicht unmittelbarer Bestandteil des Auftrags. Die Institution wird mittelbar gefolgert. Sie ist, obschon eine Konsequenz ihrer Forderungen, nicht logischerweise in der Gesellschaft, sondern weil ihr wie dem Individuum der Ausschluss droht. Als 'Fleisch' am Skelett des Fürsorgegedankens muss auch sie für ihre Konstitution den Preis der Konventionalität bezahlen. Sie ist die Nicht-Familie, die wie die Familie darum kämpft, den Ansprüchen der Gesellschaft zu genügen.

 

Ob Heim oder Pflegefamilie im Falle der Fremdunterbringung, - auch die Institution kann scheitern. Doch die Kriterien dieses Scheitern sind andere als die der Familie. Wie für die Fürsorge festgestellt, nimmt ihr Funktionieren das Kind als Bedingung aus. Das scheint zunächst sinnvoll, weil nicht anzunehmen ist, dass ein Verhalten, wie es beispielsweise Niklas zeigt (sei es der Grund der Heimunterbringung oder nicht), sich außerhalb der Familie schlagartig verändern wird. Tatsächlich jedoch identifiziert dieser Ausschluss nachgerade das Kind als das eigentliche Problem. Bis heute billigt die Gesellschaft fast jeden elterlichen Erziehungsstil, solange das Kind späterhin zu einem Bekenntnis zu ihren Konventionen kommt. Dass Prügel im familiären Rahmen vor gesellschaftlicher Ächtung und gesetzlichem Verbot stehen, hat wenig mit Humanität zu tun; in einer hochkomplexen Welt, die maximalen Selbstzwang verlangt, haben geschlagene Kinder oft nicht die Motivation, die Kraft und die Kenntnis, die Spielregeln der Gemeinschaft einzuhalten.

 

Die Nachdenklichkeit ist ein Teil seines
Charakters, seit er vor langer Zeit, als er noch
jung war, in dem neuen Staatsgefängnis bei
Horsens eingesperrt worden war und hier ein
Jahr in völliger Isolation gelebt hatte.
Das nach dem amerikanischen
Philadelphia-Prinzip gebaute Gefängnis war zu
dem Zeitpunkt noch nicht fertig, und wenn Ramses
aus einem der Kopenhagener Verbesserungshäuser
dorthin verlegt wurde, so deshalb,
weil der Gefängnisdirektor sich danach sehnte,
seine Prinzipien in die Wirklichkeit umzusetzen.

Peter Hoeg
Vorstellung vom zwanzigsten Jahrhundert
rororo (1994) S.93

 

 

 

Umgekehrt wird die Institution nach ihren Handlungen - dem Fürsorgevollzug - und nicht nach den Ergebnissen beurteilt. Man kann die Quadratmeterzahl Privatsphäre bestimmen, die ein Kind zum Leben brauchen mag, die Ausstattung des Heims oder Anforderungen an Pflegefamilien, die Zahl der anwesenden Betreuer, inwieweit das Kind der Schulpflicht genügt, seine Freizeit und -räume auf Legalität kontrollieren. Ob es glücklich oder wenigstens zufrieden ist, ob in der Quantifizierung von Lebensbedingungen auch Lebensqualität entsteht, welchen Einfluss das fürsorgliche Bemühen auf die Zukunft des Kindes hat, - dafür gibt es kein festes Maß. Gäbe es dieses Kriterium, so würde gegen das Ungenügen der Institution noch immer das festgeschriebene Scheitern der Familie stehen. Ein Kind, dem die Institution nicht helfen kann, bleibt das Kind der Familie. Das Nichtfunktionieren der Familie ist ja die Bedingung der Hilfe, Fürsorge das Ausfüllen ihrer Defizienz. Ihre Konditionen sind primär, und vom ersten Moment der Fürsorge an bleiben sie eingebrannt in den Köpfen der Sozialarbeiter, Psychologen und Ärzte, notiert und fotografiert in den Akten, den Beschreibungen eines Sorgezustands, der nicht länger andauern soll.

 

Solange das Kind sich in Händen der Institution befindet, kann sich die Familie vom Makel ihrer 'Ent-Sorgung' nicht befreien. Institutionalisierte Kontakte zur 'Restfamilie', partnerschaftliche Zusammenarbeit mit den Eltern und ihr bleibendes Sorgerecht sind sinnvolle Maßnahmen, doch sie verdecken das Scheitern der Familie nicht. Im Gegenteil: Ein Wochenende oder Urlaub bei Eltern und Geschwistern ist kein Familienleben; die Zusammenarbeit zwischen Eltern und Mitarbeitern von Fürsorgeinstitutionen ist gerade Zeugnis eines Rechts- und Kompetenzgefälles, das in eine Pseudopartnerschaft zu hüllen eine Beleidigung der elterlichen Wahrnehmung bedeuten kann; schließlich erscheint das Verbleiben des Sorgerechts bei den Eltern oft genug als Gnade gegen Kooperation, als missbrauchte Macht über das Kind oder Entscheidungsqual für die Berechtigten, die für eine Farce konditionierter Wahl das schmerzhafte Bewusstsein alleiniger Verantwortung und Schuld tragen müssen! Kommt es eines Tages dennoch zu einer Rückführung des Kindes in die Familie, ist sie eine andere geworden. Dies nicht nur, weil sich ihre und die Konditionen für das Kind (als Rückkehrbedingung in der Regel zum 'Bessern') verändert haben, sondern weil ihr Scheitern ihre Geschichte geworden ist. Das Stigma muss nicht notwendigerweise wirksam sein. Meistens aber ist es Kondition als Selbstzweifel: Ich bekam Hilfe, doch brauchte ich sie nicht auch?! In einem Zirkelschluss scheint mir die Fürsorge die Richtigkeit meiner Idee von der 'besseren' Familie zu beweisen, obschon doch die Fürsorge sich in Wirklichkeit auf einen kontingenten Familienbegriff beruft.

 

 

Meine diesbezüglichen Gedanken verändern die Welt nicht. Ich sage nicht, dass ein Kind sich in Heim oder Pflegefamilie nicht wohler fühlen kann als in 'seiner' Familie; dass Fürsorge mangelhafte Sorge nicht sinnvoll zu kompensieren vermag; dass die Familie durch institutionelle Hilfe nicht gewinnen kann, was immer sie oder die Gesellschaft unter einem solchen Gewinn verstehen. Doch eine letzte Rechtfertigung erwächst aus den mutmaßlich objektiven Verhältnissen nicht. Ich bin doch selbst ein Teil dieser Systeme. Ich komme aus einer Familie, die ich anders denken kann, als sie tatsächlich für mich war. Ich musste die Regeln der Gesellschaft lernen, mich zu ihren Konventionen bekennen, bedroht durch die Möglichkeit der Fürsorge. Ich habe die Institution  gesehen, ihre Abgrenzung von der Familie verstanden. Wie könnte ich jemals noch sagen, dass 'besser' ist, was nur hat sein können, solange ich nicht davon wusste?!

 

Graf* hat in seinen Betrachtungen über die "Grenzen der Einrichtung [= Institution] als pädagogische Grenzen" etwas sehr Kluges festgestellt. Bezogen auf die Kontrolle von Kindern und Jugendlichen in Fürsorgeinstitutionen schreibt er: "Die Wahrnehmung ihrer eigenen Peripherie dient hier der Einrichtung der Aufrechterhaltung ihres Einflusses auf den Insassen unter dem Vorwand der Ausdünnung ihrer Aktivitäten." Zu Beginn der Maßnahme ist die Kontrolle der Klienten sehr stark, da sich die Maßnahme durch den Betreuungsbedarf legitimiert. Obschon - wie gezeigt - Verfassung und Verhalten des Klienten kein Kriterium für das Funktionieren der Institution sind, bleibt das Ziel der Maßnahme ein Zustand, der sie nicht mehr bedingt. Mit der Zeit müsste die Kontrolle entsprechend abnehmen, eine sukzessive Entfernung des Klienten aus dem Zentrum der Institution stattfinden. Der Legitimationsbedarf der Institution wird jedoch nicht geringer.

 

Um diesem Dilemma zu entgehen, das mithin auch finanzielle Aspekte wie temporär überflüssige Betreuungsressourcen hat, nimmt die Institution zu sich selbst eine Metaposition ein. Aus ihr heraus erklärt sie ihren faktischen Rückzug zum Programm, in dem sie ihre Anwesenheit beim Klienten auf höherer Ebene rechtfertigt und beibehält. Überspitzt formuliert heißt das: Der Klient kann sich von der Institution nur lösen, wenn sie ihn  nicht mehr braucht. Das gleiche gilt für die denkbare Neukonstitution der Familie, - von einer Restitution kann ja nicht gesprochen werden. Das Stigma der Fürsorge liegt also nicht allein im festgeschriebenen Augenblick des Scheiterns, sozusagen der sanktionierten größten Not der Familie. Es dehnt sich aus. Es ist der fortwährende Blick der Institution - und in ihm der Gesellschaft - auf das, was einmal die Familie war.

Anna sagte es niemandem, aber sie wusste, dass
das Wort
Mission wichtig war. Die Deliranten
und die Frauenmisshandler und die Händler,
die alles, absolut alles, verkauften, sie alle meinten,
sie hätten eine Mission, es gab in diesem Gebäude
nicht einen Menschen, der nicht an der Verbesserung
der Gesellschaft arbeitete. Selbst diejenigen,
die einen scheuen Unwillen gegen eine
regelmäßige Arbeit hegten und ihr ganzes Leben
der Bekämpfung der Polizei gewidmet hatten
und in den Toreinfahrten mit in Zeitungspapier
eingewickelten Bleirohren warteten, waren
überzeugt davon, dass es möglich sei, sich in ein
besseres Dasein hineinzuprügeln [...]. 

Peter Hoeg
Vorstellung vom zwanzigsten Jahrhundert
rororo (1994) S.151

 

Es ist das aus der Institution selbst kommende Misstrauen, das die Abweichung von der gesellschaftlichen Konvention als einen Sündenfall betrachtet, hinter den nicht zurückzukehren ist. Wie das Punktekonto in Flensburg oder das Vorstrafenregister bei Polizei und Meldeämtern ist die fürsorgliche Begleitung durch die Institution eine Umwertung ihrer Selbstbegründung. In ihr schreibt sie den Auftrag der Gesellschaft fort, macht ihre Existenzangst und ihr Sicherheitsbedürfnis zur allgemeinen Angst vor dem "wilden, regellosen" Kind, dem "unberechenbaren, undurchsichtigen, gefährlichen" (Hesse, s.o.) Menschen, und zur Idee früher, unausgesetzter Einforderung der Konventionalität.

 

 

"Es ist eine Tatsache", beklagt sich Flosdorf**, "dass die Kinder und Jugendlichen erst sehr viel später in die Heime kommen, - offensichtlich erst, wenn andere Möglichkeiten der Jugendhilfe ausprobiert oder wenn das Aufschieben und Zuwarten die ohnehin angehobene allgemeine Toleranzschwelle gegenüber Schwierigkeiten und Normverletzungen endgültig überschritten hat". Dieser Satz wird im Scheitern der Familie richtig. Wie weit aber will ich dieses durch die Fürsorge definierte Scheitern vorziehen?

 

Die Ansprüche der Gesellschaft an ihre Mitglieder steigen unaufhörlich, sei es in Bildung, Wirtschaft oder politischem System, - in der Enge der Grenzen wird ihr Überschreiten unausweichlich. Wie mächtig muss der Orwell'sche Staat werden, um sie zu schützen, wie früh die Konformierung durch die Institution einsetzen? Da das Gesamtsystem der Gesellschaft aber nur in seinen Subsystemen Bestand hat, wird das Primat der Familie mehr und mehr von den anonymen Strukturen der Fürsorge usurpiert. Während die religiösen Ordnungen des Mittelalters sich noch einmalig in Gott, die aufklärerischen Systeme abschließend in der Vernunft gründen konnten, verlangen die gesellschaftsimmanenten Ethiken der modernen transzendenz- und idealfreien Weltsicht nach programmatischem Mitleid und unendlichem Regress von Sorge und Fürsorge. Hier und jetzt geht es nicht mehr um eine zeitlose Moral, um letztgültige Werte und um ein unverbrüchliches Menschsein in einem über es hinausweisenden Menschenbild. Es geht um Macht! Es gilt, die Menschen in ihrer Pseudosubjektivität zu isolieren, ihnen ihre Konditionen als Konstruktionen gefällig zu machen. Wer dieses Bekenntnis verweigert, wird ausgegrenzt und in der Ausgrenzung beherrscht.

 

Heim

 

 

* Erich Otto Graf
Institutionelle Einflüsse auf die
Funktionsweise von Erziehungsheimen
in: E. O. Graf (Hrsg.)
Heimerziehung unter der Lupe
Edition SZH (1993) S.143ff.

** Peter Flosdorf
Zukunft der Heimerziehung
in: P. Schmidle / H. Junge (Hrsg.)
Zukunft der Heimerziehung
Lambertus (1985) S.51

 

 

 

 

 

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