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 | Der dritte Begriff, Institution,
      versucht, das unspezifischste der Systeme zu erfassen, die an der
      Fremdunterbringung von Kindern beteiligt sind. Es kann nicht unabhängig
      von den beiden vorstehend beschriebenen verstanden werden, denn es ist die
      Negation der Familie und die Manifestation der Fürsorge.
      Ich habe Fürsorge dem Wesen nach als Struktur dargestellt, welche in
      gesellschaftlichem Auftrag stellvertretenden Normenvollzug garantiert. In
      ihren angedeuteten Konditionen ist sie allerdings bereits als Institution
      gegenwärtig. Die Unterscheidung von Fürsorge und Institution
      ist dennoch sinnvoll, insofern erstere ein intendierter gesellschaftlicher
      Ausdruck ist, zweitere eine abgeleitete Hypostasierung. Wen oder was immer
      man unter Gesellschaft verstehen mag - die "volonté générale"
      Rousseaus, Staatsverfassung,
      Gesetze oder einfach eine Versammlung von Menschen unter einem beliebigen
      Zeichen -, in ihren Konventionen ist sie ein negativer Begriff der
      individuellen Freiheit. Sie vermag an die Stelle des Individuums nichts
      Neues zu setzen. Ihr Auftrag ist folglich stets eine Ausgrenzung: Verbot
      von Verhältnissen, die Bestrafung des Verhaltens, das ihrer Konvention,
      dem Gemeinen  der Gemeinschaft, widerspricht. Das Kriterium
      der Gesellschaft ist das Ungenügen ihrer Mitglieder. Fürsorge beginnt in
      sozialem Auftrag, wo das Versagen der Sorge des Einzelnen konstatiert
      wird. Wie Fürsorge geschieht, ist nicht unmittelbarer Bestandteil
      des Auftrags. Die Institution wird mittelbar gefolgert. Sie ist, obschon
      eine Konsequenz ihrer Forderungen, nicht logischerweise in der
      Gesellschaft, sondern weil ihr wie dem Individuum der Ausschluss droht.
      Als 'Fleisch' am Skelett des Fürsorgegedankens muss auch sie für ihre
      Konstitution den Preis der Konventionalität bezahlen. Sie ist die Nicht-Familie,
      die wie die Familie darum kämpft, den Ansprüchen der Gesellschaft
      zu genügen.   |  
    | Ob
      Heim oder Pflegefamilie im Falle der Fremdunterbringung, - auch die
      Institution kann scheitern. Doch die Kriterien dieses Scheitern sind
      andere als die der Familie. Wie für die Fürsorge festgestellt, nimmt ihr
      Funktionieren das Kind als Bedingung aus. Das scheint zunächst sinnvoll,
      weil nicht anzunehmen ist, dass ein Verhalten, wie es beispielsweise
      Niklas zeigt (sei es der Grund der Heimunterbringung oder nicht), sich außerhalb
      der Familie schlagartig verändern wird. Tatsächlich jedoch identifiziert
      dieser Ausschluss nachgerade das Kind als das eigentliche Problem. Bis
      heute billigt die Gesellschaft fast jeden elterlichen Erziehungsstil,
      solange das Kind späterhin zu einem Bekenntnis zu ihren Konventionen
      kommt. Dass Prügel im familiären Rahmen vor gesellschaftlicher Ächtung
      und gesetzlichem Verbot stehen, hat wenig mit Humanität zu tun; in einer
      hochkomplexen Welt, die maximalen Selbstzwang verlangt, haben geschlagene
      Kinder oft nicht die Motivation, die Kraft und die Kenntnis, die
      Spielregeln der Gemeinschaft einzuhalten. |   Die
      Nachdenklichkeit ist ein Teil seinesCharakters, seit er vor langer Zeit, als er noch
 jung war, in dem neuen Staatsgefängnis bei
 Horsens eingesperrt worden war und hier ein
 Jahr in völliger Isolation gelebt hatte.
 Das nach dem amerikanischen
 Philadelphia-Prinzip gebaute Gefängnis war zu
 dem Zeitpunkt noch nicht fertig, und wenn Ramses
 aus einem der Kopenhagener Verbesserungshäuser
 dorthin verlegt wurde, so deshalb,
 weil der Gefängnisdirektor sich danach sehnte,
 seine Prinzipien in die Wirklichkeit umzusetzen.
 Peter
      HoegVorstellung vom zwanzigsten Jahrhundert
 rororo (1994) S.93
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    | 
 | Umgekehrt
      wird die Institution nach ihren Handlungen - dem Fürsorgevollzug - und
      nicht nach den Ergebnissen beurteilt. Man kann die Quadratmeterzahl
      Privatsphäre bestimmen, die ein Kind zum Leben brauchen mag, die
      Ausstattung des Heims oder Anforderungen an Pflegefamilien, die Zahl der
      anwesenden Betreuer, inwieweit das Kind der Schulpflicht genügt, seine
      Freizeit und -räume auf Legalität kontrollieren. Ob es glücklich oder
      wenigstens zufrieden ist, ob in der Quantifizierung von Lebensbedingungen
      auch Lebensqualität entsteht, welchen Einfluss das fürsorgliche Bemühen
      auf die Zukunft des Kindes hat, - dafür gibt es kein festes Maß. Gäbe
      es dieses Kriterium, so würde gegen das Ungenügen der Institution noch
      immer das festgeschriebene Scheitern der Familie stehen. Ein Kind, dem die
      Institution nicht helfen kann, bleibt das Kind der Familie. Das
      Nichtfunktionieren der Familie ist ja die Bedingung der Hilfe, Fürsorge
      das Ausfüllen ihrer Defizienz. Ihre Konditionen sind primär, und vom
      ersten Moment der Fürsorge an bleiben sie eingebrannt in den Köpfen der
      Sozialarbeiter, Psychologen und Ärzte, notiert und fotografiert in den
      Akten, den Beschreibungen eines Sorgezustands, der nicht länger andauern
      soll. |  
    | Solange
      das Kind sich in Händen der Institution befindet, kann sich die Familie
      vom Makel ihrer 'Ent-Sorgung' nicht befreien. Institutionalisierte
      Kontakte zur 'Restfamilie', partnerschaftliche Zusammenarbeit mit den
      Eltern und ihr bleibendes Sorgerecht sind sinnvolle Maßnahmen, doch sie
      verdecken das Scheitern der Familie nicht. Im Gegenteil: Ein Wochenende
      oder Urlaub bei Eltern und Geschwistern ist kein Familienleben; die
      Zusammenarbeit zwischen Eltern und Mitarbeitern von Fürsorgeinstitutionen
      ist gerade Zeugnis eines Rechts- und Kompetenzgefälles, das in eine
      Pseudopartnerschaft zu hüllen eine Beleidigung der elterlichen
      Wahrnehmung bedeuten kann; schließlich erscheint das Verbleiben des
      Sorgerechts bei den Eltern oft genug als Gnade gegen Kooperation, als missbrauchte
      Macht über das Kind oder Entscheidungsqual für die Berechtigten, die für
      eine Farce konditionierter Wahl das schmerzhafte Bewusstsein alleiniger
      Verantwortung und Schuld tragen müssen! Kommt es eines Tages dennoch zu
      einer Rückführung des Kindes in die Familie, ist sie eine andere
      geworden. Dies nicht nur, weil sich ihre und die Konditionen für das Kind
      (als Rückkehrbedingung in der Regel zum 'Bessern') verändert haben,
      sondern weil ihr Scheitern ihre Geschichte geworden ist. Das Stigma muss
      nicht notwendigerweise wirksam sein. Meistens aber ist es Kondition als
      Selbstzweifel: Ich bekam Hilfe, doch brauchte ich sie nicht
      auch?! In einem Zirkelschluss scheint mir die Fürsorge die
      Richtigkeit meiner Idee von der 'besseren' Familie zu beweisen, obschon
      doch die Fürsorge sich in Wirklichkeit auf einen kontingenten
      Familienbegriff beruft. | 
 |  
    | Meine
      diesbezüglichen Gedanken verändern die Welt nicht. Ich sage nicht, dass
      ein Kind sich in Heim oder Pflegefamilie nicht wohler fühlen kann als in
      'seiner' Familie; dass Fürsorge mangelhafte Sorge nicht sinnvoll zu
      kompensieren vermag; dass die Familie durch institutionelle Hilfe nicht
      gewinnen kann, was immer sie oder die Gesellschaft unter einem solchen
      Gewinn verstehen. Doch eine letzte Rechtfertigung erwächst aus den mutmaßlich
      objektiven Verhältnissen nicht. Ich bin doch selbst ein Teil dieser
      Systeme. Ich komme aus einer Familie, die ich anders denken kann,
      als sie tatsächlich für mich war. Ich musste die Regeln der Gesellschaft
      lernen, mich zu ihren Konventionen bekennen, bedroht durch die Möglichkeit
      der Fürsorge. Ich habe die Institution  gesehen, ihre
      Abgrenzung von der Familie verstanden. Wie könnte ich jemals noch sagen, dass
      'besser' ist, was nur hat sein können, solange ich nicht davon wusste?!   |  
    |  | Graf*
      hat in seinen Betrachtungen über die "Grenzen der Einrichtung [= Institution]
      als pädagogische Grenzen" etwas sehr Kluges festgestellt. Bezogen
      auf die Kontrolle von Kindern und Jugendlichen in Fürsorgeinstitutionen
      schreibt er: "Die Wahrnehmung ihrer eigenen Peripherie dient hier der
      Einrichtung der Aufrechterhaltung ihres Einflusses auf den Insassen unter
      dem Vorwand der Ausdünnung ihrer Aktivitäten." Zu Beginn der Maßnahme
      ist die Kontrolle der Klienten sehr stark, da sich die Maßnahme durch den
      Betreuungsbedarf legitimiert. Obschon - wie gezeigt - Verfassung und
      Verhalten des Klienten kein Kriterium für das Funktionieren der
      Institution sind, bleibt das Ziel der Maßnahme ein Zustand, der sie nicht
      mehr bedingt. Mit der Zeit müsste die Kontrolle entsprechend abnehmen,
      eine sukzessive Entfernung des Klienten aus dem Zentrum der Institution
      stattfinden. Der Legitimationsbedarf der Institution wird jedoch nicht
      geringer.   |  
    | Um
      diesem Dilemma zu entgehen, das mithin auch finanzielle Aspekte wie temporär
      überflüssige Betreuungsressourcen hat, nimmt die Institution zu sich
      selbst eine Metaposition ein. Aus ihr heraus erklärt sie ihren faktischen
      Rückzug zum Programm, in dem sie ihre Anwesenheit beim Klienten auf höherer
      Ebene rechtfertigt und beibehält. Überspitzt formuliert heißt das: Der
      Klient kann sich von der Institution nur lösen, wenn sie ihn 
      nicht mehr braucht. Das gleiche gilt für die denkbare Neukonstitution der
      Familie, - von einer Restitution kann ja nicht gesprochen werden. Das
      Stigma der Fürsorge liegt also nicht allein im festgeschriebenen
      Augenblick des Scheiterns, sozusagen der sanktionierten größten Not der
      Familie. Es dehnt sich aus. Es ist der fortwährende Blick der Institution
      - und in ihm der Gesellschaft - auf das, was einmal die Familie war. | Anna
      sagte es niemandem, aber sie wusste, dassdas Wort Mission wichtig war. Die Deliranten
 und die Frauenmisshandler und die Händler,
 die alles, absolut alles, verkauften, sie alle meinten,
 sie hätten eine Mission, es gab in diesem Gebäude
 nicht einen Menschen, der nicht an der Verbesserung
 der Gesellschaft arbeitete. Selbst diejenigen,
 die einen scheuen Unwillen gegen eine
 regelmäßige Arbeit hegten und ihr ganzes Leben
 der Bekämpfung der Polizei gewidmet hatten
 und in den Toreinfahrten mit in Zeitungspapier
 eingewickelten Bleirohren warteten, waren
 überzeugt davon, dass es möglich sei, sich in ein
 besseres Dasein hineinzuprügeln [...].
 Peter
      HoegVorstellung vom zwanzigsten Jahrhundert
 rororo (1994) S.151
 |  
    | Es
      ist das aus der Institution selbst kommende Misstrauen, das die Abweichung
      von der gesellschaftlichen Konvention als einen Sündenfall betrachtet,
      hinter den nicht zurückzukehren ist. Wie das Punktekonto in Flensburg
      oder das Vorstrafenregister bei Polizei und Meldeämtern ist die fürsorgliche
      Begleitung durch die Institution eine Umwertung ihrer Selbstbegründung.
      In ihr schreibt sie den Auftrag der Gesellschaft fort, macht ihre
      Existenzangst und ihr Sicherheitsbedürfnis zur allgemeinen Angst
      vor dem "wilden, regellosen" Kind, dem "unberechenbaren,
      undurchsichtigen, gefährlichen" (Hesse, s.o.) Menschen, und zur Idee
      früher, unausgesetzter Einforderung der Konventionalität. | 
 |  
    | "Es
      ist eine Tatsache", beklagt sich Flosdorf**,
      "dass die Kinder und Jugendlichen erst sehr viel später in die Heime
      kommen, - offensichtlich erst, wenn andere Möglichkeiten der Jugendhilfe
      ausprobiert oder wenn das Aufschieben und Zuwarten die ohnehin angehobene
      allgemeine Toleranzschwelle gegenüber Schwierigkeiten und
      Normverletzungen endgültig überschritten hat". Dieser Satz wird im
      Scheitern der Familie richtig. Wie weit aber will ich dieses durch die Fürsorge
      definierte Scheitern vorziehen?   |  
    |  | Die Ansprüche der Gesellschaft an ihre
      Mitglieder steigen unaufhörlich, sei es in Bildung, Wirtschaft oder
      politischem System, - in der Enge der Grenzen wird ihr Überschreiten
      unausweichlich. Wie mächtig muss der Orwell'sche Staat werden, um sie zu schützen, wie früh die
      Konformierung durch die Institution einsetzen? Da das Gesamtsystem der
      Gesellschaft aber nur in seinen Subsystemen Bestand hat, wird das Primat
      der Familie mehr und mehr von den anonymen Strukturen der Fürsorge
      usurpiert. Während die religiösen Ordnungen des Mittelalters sich noch
      einmalig in Gott, die aufklärerischen Systeme abschließend in der
      Vernunft gründen konnten, verlangen die gesellschaftsimmanenten Ethiken
      der modernen transzendenz- und idealfreien Weltsicht nach programmatischem
      Mitleid und unendlichem Regress von Sorge und Fürsorge. Hier und jetzt
      geht es nicht mehr um eine zeitlose Moral, um letztgültige Werte und um
      ein unverbrüchliches Menschsein in einem über es hinausweisenden
      Menschenbild. Es geht um Macht! Es gilt, die Menschen in ihrer
      Pseudosubjektivität zu isolieren, ihnen ihre Konditionen als
      Konstruktionen gefällig zu machen. Wer dieses Bekenntnis verweigert, wird
      ausgegrenzt und in der Ausgrenzung beherrscht.   |  
    |  |  | Heim |  |  
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    |  | * Erich Otto Graf Institutionelle Einflüsse auf die
 Funktionsweise von Erziehungsheimen
 in: E. O. Graf (Hrsg.)
 Heimerziehung unter der Lupe
 Edition SZH (1993) S.143ff.
 ** Peter FlosdorfZukunft der Heimerziehung
 in: P. Schmidle / H. Junge (Hrsg.)
 Zukunft der Heimerziehung
 Lambertus (1985) S.51
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