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Verhaltenstraining
Dr. Johannes Streif

 

 

 

 




 

 

 

Das Deutsche Universalwörterbuch von Duden definiert Familie als "aus einem Elternpaar und mindestens einem Kind bestehende Gemeinschaft". Der Begriff der Familie partizipiert hier wie der zu seiner Bestimmung herangezogene der Gemeinschaft an einer positiven Besetzung der Sozialität. Seine Abgrenzung gegen das Individuelle provoziert die Konstitution von primären Verbindungen wie beispielsweise die Idee der Elternschaft. Statt Gemeinschaft würden Begriffe wie Gruppe oder System das Faktum der Verbindungen gleich beschreiben, nicht aber die Intention. Sprache beruht auf konventionellen Aussageabsichten. Wer im Deutschen - mit Duden - Familie sagt, meint eine Eltern-Kind-Verbindung, die in der Regel als biologisch begründet verstanden wird; wer von Eltern spricht, meint Vater und Mutter (meist in dieser Reihenfolge!); wer Eltern in ihrem Bezug zu Kindern sieht, meint ein Sorgeverhältnis; wer ein Kind in seinem Bezug zu Eltern betrachtet, meint Abhängigkeit in ihren positiven wie negativen Aspekten. Obschon sich die Familie zunächst in der Gesellschaft ausgegrenzt vorfindet, insofern Gesetze und Normen sie als ein eigenes (Sub-)System definieren, führt ein sozialisiertes Bedürfnis nach Autonomie zur Introjektion der Konditionen. Sorgerecht und -pflicht werden zu eigener Sorge, biologische und rechtliche Verbindungen werden emotional besetzt, Steuervergünstigungen und Kindergeld von gesellschaftlichen Anreizen in Belohnung autonomen Handelns umgewertet.

 

 

Ich weiß, dass dies eine pessimistische Sicht auf die Liebe zwischen Eltern und Kind ist. Dass sie mir widerstrebt, macht es nur leichter, die Familie aus sich heraus sich konstituieren zu sehen. Ich sehe den genetisch kodierten wie sozialisierten Wunsch, Kinder zu 'haben', Kinder zu lieben, ihr 'Urvertrauen' zu akzeptieren, elterliche Sorge und kindliche Abhängigkeit für natürlich zu erklären. Ich sehe die Hoffnung und den Narzissmus, in Kindern weiterzuleben, ein neues Kapitel der eigenen Geschichte zu schreiben, nochmals an ihrer Naivität teilzuhaben und die Zeit zu gewinnen, die angeblich Wunden heilen macht. Jetzt aber ist die Last der Gesellschaft zu meiner eigenen geworden. Ich rechtfertige die Konditionen, die ich nicht verantworten kann. Diesen Prozess durchlebe ich, um die Ausgrenzung aus der Gesellschaft zu ertragen. Sie sagt: Du und Dein Kind!, wenn sie meine Leistung für es anerkennt, wenn sie über meine Sorge urteilt und wenn sie mein Versagen festschreibt, weil mein  Kind ihr  nicht genügt. Ich sage: Ich und mein Kind!, wenn ich stolz auf es bin, wenn ich mich selbst für es vergesse, wenn ich unsere Einsamkeit nicht aushalten kann und mir einrede, wir beide wollten es so. So-Sein wird Ich-Sein um der Illusion der Autonomie willen, die mich die Gesellschaft lehrte. Damit entriss sie mich der Familie, der sie mich überantwortete, als ich in die Konvention der Gesellschaft noch keine Einsicht und für ihre Konstitution noch keine Bedeutung hatte. Andeutungsweise sollte diese Verschiebung in Niklas Mutter erkennbar geworden sein.

 

In wissenschaftlichem Verständnis unterscheidet Schneewind (1995)* in Anlehnung an Karpel und Strauss fünf Definitionen von Familie: 1) Die "biologische Familie" als Summe der Verbindungen aufgrund von Blutsverwandtschaft; 2) Die "rechtliche Familie" als Summe von Verbindungen auf Grundlage des Rechtssystems; 3) Die "funktionale Familie" als Summe von Verbindungen des alltäglichen Zusammenlebens; 4) Die "wahrgenommene Familie" als Summe von Verbindungen, die die einzelnen Familienmitglieder zueinander sehen; 5) Die "Familie mit langfristigen Verpflichtungen" gemessen an der Stabilität ihrer Verbindungen, welcher Art diese auch sind.

Von meinem siebten Lebensjahr an, als ich zum
ersten Mal nach Dänemark kam, bin ich, bis ich
dreizehn war und aufgab, öfter abgehauen, als
ich mich erinnern kann. Zweimal kam ich bis
Grönland, einmal weiter bis nach Thule. Man muss
sich nur an eine Familie anhängen und aussehen,
als säße die Mutti im Flugzeug fünf Sitze weiter vorn,
oder sich ein bisschen weiter hinten in die Schlange
stellen. Die Welt ist voller Räubergeschichten von
entflogenen Papageien, entlaufenen Perserkatzen
und französischen Bulldoggen, die wunderbarerweise
zu Herrchen und Frauchen in die Frydenholm Allee
zurückgefunden haben. Das ist nichts gegen die
Kilometer, die Kinder auf ihrer Suche nach einem
ordentlichen Leben zurückgelegt haben.

Peter Hoeg
Fräulen Smillas Gespür für Schnee

rororo (1996) S.71

 

 

Die Biologie beschreibt vererbte irreversible Konditionen: die physiologische und die auf ihr aufruhende psychologische Verfasstheit der Familienmitglieder, ihre Blutsverwandtschaft und auf Grundlage dieser Verwandtschaft geteilte soziale Bedingungen. Das Recht beschreibt gesellschaftliche Konditionen: den rechtlichen Status der einzelnen Familienmitglieder und der Familie als Subsystem des Gesellschaftssystems, staatlich sanktionierte Verbindungen, die Verfügbarkeit suprafamilialer Ressourcen und konventionelle Entwicklungsverläufe von einzelnen und der Familie insgesamt. Die Funktionalität beschreibt faktische Konditionen: wer mit wem wie zu tun hat. Die Wahrnehmung beschreibt subjektive Konditionen: was das einzelne Familienmitglied 'sehen' kann, was es nicht 'sehen' will und welche 'Ansichten' es glaubt, mit anderen zu teilen. Die Persistenz beschreibt logische Konditionen: insofern die Identifikation der Familie als abgegrenztem System nur durch Veränderung geschieht, ist Dauer eine Notwendigkeit.

 

Die einzelnen Definitionen sind keine Alternativen, sondern konstituieren Familie in unterschiedlichen Perspektiven. Eine umfassende Beschreibung eines Familiensystems muss seine Verhältnisse also in den Sichtweisen nachvollziehen, in denen es sich reflektiert und unreflektiert begründet. Zugleich schafft die Beschreibung Familie neu, da sie eine ihrer Konditionen ist. Die Beratungsstelle, der Psychiater, das Jugendamt haben Niklas und seine Familie verändert. Sie konnten die Verhältnisse zu keinem Zeitpunkt sehen, ohne sie zu gestalten: Sie blieben eine Möglichkeit, als der Vater den Kontakt zu ihnen ablehnte; sie waren ein Begriff von Niklas Andersartigkeit; sie warfen der Mutter kein Versagen vor, und doch manifestierten sie es in ihrer Gegenwart. Vom Wort als Ideologie über die Verbindungen bis zur vermeintlichen Beschreibung ist Familie ein Produkt von Konditionen. Es ist kein Respekt, Perspektiven als autonome Konstruktionen auszugeben. Die Verhältnisse sind anders, weil ich da bin, nicht weil ich sie anders sehen will.

 

 

Fürsorge ...

* Klaus A. Schneewind
Familienentwicklung
in: Oerter / Montada (Hrsg.)
Entwicklungspsychologie
PVU (1995) S.129
 

 

 

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