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Fürsorge,
Inbegriff des zweiten an einer Fremdunterbringung von Kindern beteiligten
Systems, ist umgangssprachlich bei weitem nicht so gut besetzt wie Familie.
Was in fürsorglich noch aktiv und positiv als "liebevoll um
jemandes Wohl bemüht" (Duden) begriffen wird, ist in Fürsorge institutionell
durch passive Bedürftigkeit und Defizienz gekennzeichnet. Sinngemäß
versteht Heidegger
unter Fürsorge das Zurückstoßen des Menschen in seine Sorge; Sorge
meint dabei den Modus der menschlichen Anwesenheit in der Welt. Als ein
auf Gesetzen und Normen gegründeter gesellschaftlicher Auftrag ist Fürsorge
hingegen der Versuch, die Sorge einzelner oder gar von Gruppen auf andere
zu übertragen. Es ist nicht nur Existenzialisten einsehbar, dass solches
Unterfangen sinnlos ist.
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Nachdem
das Jugendamt Niklas Heimunterbringung befürwortete, lenkte und
finanzierte es die Erziehung eines Kindes, das er in 'seiner' Familie
(noch) nicht sein konnte; natürlich war der Mutter die Sorge um die
Erziehung ihres Sohnes weitgehend abgenommen, doch wurde sie mit der
Heimunterbringung eine andere als die, die sie in ihrer Sorge gewesen war.
Zudem wurde die Einhaltung der gesellschaftlichen Norm auf eine andere
Ebene verlagert. Ist es zunächst das Kind, das nicht 'funktioniert', so
wird durch den Vollzug der Fürsorge ihr Funktionieren zum
Kriterium, denn die Passivität und Defizienz des Familiensystems ist
durch sein Versagen festgeschrieben. Mehr noch: Der Fürsorgeauftrag der
Gesellschaft verlangt das Scheitern der Familie, indem er einerseits Hilfe
an Bedingungen knüpft, andererseits paradoxerweise die
Institutionalisierung der Fürsorge durch die Erfüllung der Bedingungen
legitimiert.
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In Bezug auf Heimkinder und Heimpersonal
formuliert Graf* diese
Reziprozität als "strukturelle Abhängigkeit der einen Kategorie von
der anderen", die in der "pädagogischen Ideologie des Helfens
ausgeblendet" werde. Der Gedanke der Fürsorge konstituiert gescheiterte
Familien, indem er ihres Begriffes bedarf, um sich zu begründen.
Damit ist nicht gesagt, dass die Verhältnisse, welche die
Fremdunterbringung eines Kindes notwendig erscheinen lassen, durch die Fürsorgemöglichkeit
faktisch geschaffen werden. Andere Zeiten und Gesellschaften, die Fürsorge
nicht kennen, zeigen aus der Sicht der Fürsorgegesellschaft sehr wohl für
Kinder problematische Familienverhältnisse. Allerdings zwingt die Idee
der Fürsorge zur Annahme, dass es in Familien Probleme gibt, die ihre
Sorgepflichtigen nicht oder nur schlechter lösen können als nichtfamiliäre
Sorgeinstitutionen; dass es für Kinder etwas Besseres geben kann als ihre
Familien; dass dieses Bessere benennbar ist: materielle Versorgung, feste
Strukturen, emotionale Wärme oder ähnliches; dass die Verbesserung für
das Kind oder die Restfamilie messbar ist und Personen und Institutionen
sie gewährleisten. Aus den Implikationen dieses Systems lässt sich eine
Vielzahl von Konditionen für seine Agenten wie auch Adressaten ableiten.
All dies, obschon in der Für-Sorge die Referenzgröße Sorge
ausgelöscht ist. |
Jetzt,
später, kann man sehen, dass wir tatsächlich
das meiste begriffen haben.
Sie hatten einen großartigen Plan gehabt.
Den Plan, alle Kinder in der dänischen Volksschule
zu versammeln, auch die gestörten und die
straffälligen, auch die schwierigen Schüler,
alle bis zur Schwachsinnsgrenze.
Biehls Privatschule sollte zum Modell für diese
Integration werden. Die Schule hätte ein
Laboratorium sein sollen, eine Werkstatt, um zu
untersuchen, wie diese Vereinigung vor sich gehen
sollte. Was an Sicherheitsvorkehrungen erforderlich
war, an psychologischer Hilfe, an Nachhilfeunterricht.
Um diesen ersten Versuch sollten die Ordnung und
Genauigkeit der Schule den festen und sicheren
Rahmen bilden. [...]
[Sie
waren sich] absolut und total sicher, dass sie
recht hatten und dass ihre Ideen und Gedanken mit
künftigen Generationen von Kindern, die erwachsen
wurden, hinaus in die Welt fliegen und sich über
das Land verbreiten würden [...]. Dass man eines
Tages, in einer nicht zu fernen Zukunft alle dazu
bringen könnte, ihre Ideale von Fleiß und Präzision
zu respektieren, und dann würden alle Lebewesen
im Universum friedlich zusammenleben.
Ich weiß, dass das ihr Ziel gewesen ist.
Das kann man nicht alltäglich nennen.
So etwas nennt man kolossal.
Peter
Hoeg
Der Plan von der Abschaffung des Dunkels
Hanser (1995) S.223ff.
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Die
Fürsorge selbst partizipiert an verschiedenen Systemen, die sie
ihrerseits institutionell konditionieren. Das KJHG vertritt einen
sozialwissenschaftlich-juristischen Diskurs, der den gesellschaftlichen
Auftrag der Fürsorge formuliert. Die finanzielle Grundlage der Fürsorge
ist demgegenüber ein spezifisches Wirtschafts- und Haushaltssystem, das
den im Gesetz festgeschriebenen gesellschaftlichen Auftrag nicht beliebig
zu realisieren erlaubt. Die organisationale Umsetzung der Fürsorge
wiederum gehorcht einer dritten Normierung: Bestimmten
Organisationsstrukturen, Beziehungen unter den Mitarbeitern, dem
Arbeitsrecht, allgemein gültigen Tarifverträgen usw. Heute mag nicht
bezahlt werden können, was der Sache nach notwendig erscheint; morgen
vielleicht kann eine überflüssig gewordene Fürsorgeeinrichtung nicht
geschlossen werden, weil ihre Mitarbeiter schwer kündbar sind. |
Doch die Interaktion der Systeme blockiert Handlungsalternativen nicht
allein, - sie transformiert sie. Der Rat von Sozialwissenschaftlern mag
wirtschaftliche Ressourcen freisetzen; umgekehrt ist aber auch denkbar, dass
Ressourcenbeschränkungen den sozialwissenschaftlichen Diskurs bestimmen,
indem sie beispielsweise seine Foren beschneiden oder nur spezifische
Beiträge honorieren lassen. Da diese konditionierenden Systeme auf
unterschiedlichen Ebenen angesiedelt und legitimiert sind, ist eine
strukturelle Lösung in Bezug auf einen gemeinsamen Gegenstand wie Fürsorge
nicht möglich. Der Alltag zeigt entsprechend den dominierenden Einfluss eines
Systems (z.B. 'die billigste Lösung') oder den Aufschub angezeigter, aber
sanktionierter Maßnahmen (z.B. 'stets Erziehungsberatung vor
Heimunterbringung'). Dieses Vorgehen korrumpiert schließlich seinerseits
den Status der Fürsorge, der ihre Konditionen in der auftraggebenden
Gesellschaft beschreibt. |
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Institution ... |
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* Erich Otto Graf
Institutionelle Einflüsse auf die
Funktionsweise von Erziehungsheimen
in: E. O. Graf (Hrsg.)
Heimerziehung unter der Lupe
Edition SZH (1993) S.134 |
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