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für Familien mit verhaltensauffälligen Kindern
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Verhaltenstraining
Dr. Johannes Streif

 

 

 

 




 

 

Verhaltens-Training

 

Viehhaltung und Geschrei ...

Halten
Haltung
Aushalten
Festhalten
Verhalten
Vorhalten
Enthaltsam
Unterhaltung
Verhältnis
Vielleicht finden Sie die Überschrift ein wenig ungewöhnlich. Sprachwissenschaftler glauben aber, dass unser heutiges Wort Verhalten seine Quelle in diesem Bedeutungszusammenhang hat. Vor und 1500 Jahren gebrauchte man das germanische "haldan" als Begriff für das Viehhüten. Noch früher gab es wohl einen Wortstamm "kel", aus dem sich "kal" und "hal" entwickelten. Der gleiche Stamm ist heute auch noch in Worten wie Hall oder holen (im Sinne von: jemanden rufen) enthalten. "kel" bedeutete im Indogermanischen* soviel wie rufen, schreien, lärmen. Das heutige Wort Verhalten selbst ist eine Schöpfung des 17. Jahrhunderts. Damals begann man sich in Europa erstmals ausdrücklich für Erziehung zu interessieren, während Kinder zuvor in der Gesellschaft entweder bedeutungslos waren oder wie Erwachsene behandelt wurden. Trotzdem gibt es freilich auch aus dem europäischen Mittelalter überlieferte Texte, die sich mit Kindern und der Liebe zu ihnen befassen. Aber alles "Verhalten" begann einmal mit Viehhaltung und Geschrei ...

 

Verhalten - Hemmen - Benehmen

Kleine Kinder haben häufig ein schlechtes Benehmen. Sie leben nur dem Augenblick und verschwenden keinen Gedanken an die Zukunft. Sie lieben Spiele und sinnlosen Zeitvertreib und weigern sich, sich mit einträglichen und nützlichen Dingen zu beschäftigen. Unwichtiges sehen sie als wichtig an und umgekehrt schätzen sie Wichtiges gering oder gar nicht. Sie wollen Dinge haben, die ihnen schaden könnten, und lieben Bilder mehr, als Erwachsene dies tun. Der Verlust eines Apfels oder einer Birne hat mehr Tränen und Klagen zu Folge als der Verlust des Erbteils. Erwiesene Wohltaten pflegen sie zu vergessen. Sie wollen alles besitzen, was sie sehen, und versuchen es mit den Händen und mit Geschrei zu erlangen. [...] Bald weinen sie, bald sind sie fröhlich; fortwährend schreien, kichern und lachen sie; kaum dass sie einmal ruhig sind, wenn sie schlafen oder träumen. Kaum gewaschen sind sie schon wieder schmutzig; und gegen Waschen oder Kämmen wehren sie sich nach Leibeskräften.

 

Bartholomaeus Anglicus
De rerum proprietatibus
Frankfurt (Main) 1601
zitiert nach: Horst Wenzel
Kindes Zuht und Wibes Reht. Zu einigen Aspekten von Kindheit im Mittelalter
in: H.-J, Bachorski
Ordnung und Lust: 
Bilder von Liebe, Ehe und Sexualität in SpMittelalt. und Früher Neuzeit
WVT (1991) 152f.

 

Bartholomaeus Anglicus, ein englischer Franziskanermönch des 13. Jahrhunderts, hat diese Beschreibung kindlichen Verhaltens verfasst. Vor fast 800 Jahren. Dennoch erscheint uns die Charakterisierung des Kindseins noch heute als aktuell und gültig. In der Geschichts- und Literaturwissenschaft hat man lange Zeit darüber gestritten, ob - wie der französische Historiker Philippe Ariès in seinem berühmten Buch Geschichte der Kindheit schrieb - Kindsein eine Entdeckung der Neuzeit wäre. Tatsächlich findet man bis 1600 selten Gemälde von Kindern, in denen diese auch als Kinder dargestellt werden. Auf den meisten Bildern der Zeit davor sehen sie eher wie geschrumpfte Erwachsene aus - mit fein gegliederten Händen und einem ausgeprägten Gesichtsausdruck. Natürlich verfügten die Künstler über die technischen Fähigkeiten, Kinder naturgetreu zu malen, wenn sie doch Erwachsene, Gebäude oder Landschaften realistisch darstellen konnten. Aber Kinder malten sie nicht. Aus einem einfachen Grund: Das Kindsein war für die damalige Gesellschaft ohne Bedeutung. Die meisten Kinder starben vor dem 5. Lebensjahr. Man liebte sie, aber man verlor sie auch. So häufig, dass der Schmerz unermesslich gewesen wäre, wenn man in jedes neugeborene Kind die Hoffnung auf eine große Karriere gelegt hätte. Daher ließ man Kinder meist gewähren, bis sie ein Alter erreichten, in dem sie für die Familie von Wert waren: bis sie arbeiten konnten. Dann behandelte man sie allerdings sogleich wie Erwachsene, mit allen Konsequenzen.

 

 

 

Du müsstest ja ein grober, undankbarer Klotz und rechtens von den Menschen zu den Tieren zu jagen sein, wenn du sähest, dass dein Sohn ein Mann werden könnte, der dazu beiträgt, dem Kaiser sein Reich, Schwert und Krone zu erhalten, dem Fürsten sein Land zu regieren, Städten und Ländern beizustehen und zu helfen, so manchem seinen Leib, sein Weib, Gut und Ehre zu schützen, und du wolltest nicht so viel daran setzen, dass er lernen und so weit kommen könnte.

Martin Luther
Eine Predigt Martin Luthers, dass man Kinder zur Schule halten solle (1530)
zitiert nach: Martin Luther. Ausgewählte Schriften
Insel (1982) Bd. V S.121

Verhalten war schon immer ein Begriff, den man nur abhängig von der Gesellschaft verstehen konnte. Bereits die Antike kannte Erziehungsratgeber und Klagen über die verkommenen Sitten der Jugend. Dass sich die Menschen bis zur Neuzeit vom Verhalten eines Kindes aber keine eigenständige, vom Leben der Erwachsenen unabhängige Vorstellung machten, lag daran, dass man sich eine andere Lebensform als die eigene gar nicht vorstellen konnte. Kinder traten zwangsläufig in die Verhältnisse ihrer Eltern ein, sei es als Bauern, Fürsten oder Handwerker. Die Menschen glaubten schlicht, dass jeder zugrunde gehen muss, der sich gegen die Gesellschaft stellt. Deshalb war beispielsweise die Verbannung aus der Gemeinschaft ein der Todesstrafe nahekommendes Urteil, auch wenn der Verbannte schon im Spätmittelalter meist an einen anderen Ort ziehen konnte. Verhalten als Inbegriff einer bestimmten Lebensform, als innere Verpflichtung auf die Regeln der Gesellschaft - das machte erst Sinn, als durch den Aufstieg des Bürgertums, Entdeckerreisen und Weltpolitik andere Lebensformen ins Blickfeld einer größeren Zahl von Menschen rückten. Jetzt konnte man sich durch ein bestimmtes Verhalten profilieren. In den vom Bürgertum beherrschten europäischen Großstädten konnte man vom Handwerker oder Händler zur Oberschicht aufsteigen. Nun war es von Bedeutung, dass man ein persönliches Lebensziel hatte und es ehrgeizig verfolgte. Der Kapitalismus der Neuzeit beginnt mit der Reformation, dem Bekenntnis der großen Städte in Deutschland und der Schweiz zum Protestantismus. Und die eigentliche Erziehung der Kinder beginnt nicht von ungefähr mit Luther, dem Vater der Reformation.

 

Sich zwingen, sich anzupassen

Die Veränderung, die mit dem Menschen im europäischen Spätmittelalter und dann vor allem in der Neuzeit geschieht, nennt der Historiker und Soziologe Norbert Elias das Entstehen der "Selbstzwangapparatur". Das mag nach Gewalt klingen, ist aber eher das Gegenteil davon, wenn man sich unter Zwang eine äußere Macht vorstellt. Elias meint im Grunde etwas sehr Einfaches und Einleuchtendes. Er beschreibt zum Beispiel anhand von alten Texten, dass die Menschen, bevor es Uhren gab, von Vorgesetzten geweckt wurden, wenn sie arbeiten mussten. Mit der Erfindung des Uhrwerks, das ohne Licht funktionierte, läutete und schließlich immer kleiner wurde, konnte man eine Uhr bei sich zuhause haben - und der Arbeitgeber vertraute darauf, dass man selbständig aufstand und pünktlich zur Arbeit erschien. Man musste sich selbst darum kümmern, wenn man den Arbeitsplatz behalten wollte. In den Städten des Mittelalters war von der Arbeit über die Kleidung bis zur Musik bei Festen alles aufs Genaueste geregelt. Wer gegen die Gesetze verstieß, wurde empfindlich bestraft. Im Bürgertum des 19. Jahrhunderts gibt es die meisten dieser örtlichen Vorschriften nicht mehr. Respektiert und akzeptiert war aber nur derjenige, der sich zu benehmen wusste. Heute gibt es praktisch keine Einschränkungen mehr, welchen Beruf man erlernt, was man anzieht oder welche Musik man auf Privatfesten hört. Wer aber im Beruf erfolgreich sein möchte oder gesellschaftlich "in", der muss sich den Erfordernissen des Marktes und den Launen der Mode anpassen.

Der Umstand, dass die heutigen westlichen Gesellschaften viele Verhaltensweisen kennen, bedeutet noch lange nicht, dass sie ein bestimmtes Verhalten bei jeder Person und/oder in jeder Situation akzeptieren. Für Kinder ist es daher so schwierig wie nie zuvor, zu lernen und zu verstehen, welches Verhalten man wann von ihnen verlangt. Das gleiche gilt letztlich auch für uns Erwachsene, obwohl die Mehrheit eine feste gesellschaftliche Position erreicht hat und sich meist über Jahrzehnte in der gleichen Welt von Familie, Arbeit und Freizeit bewegt. Verhalten ergibt sich jetzt aber nicht mehr von selbst. Es ist eine Handlung, über die wir bei unserer Lebensplanung immer wieder neu nachdenken müssen. Wie verhalten wir uns diesem Menschen, dieser Sache gegenüber? Auch wenn uns vieles im Alltag nicht gefällt - wir bewahren die Haltung! Früher war das vielleicht mal ein Bild für Rückgrat bis zur Sturheit. Heute ist es der Satz, mit dem wir unsere hartnäckige Anpassung an die Umwelt begründen. Verhalten ist kein abgeschlossenes Muster an Handlungsweisen mehr - es ist ein veränderliches, lernendes Verhältnis zur Welt. 

Damit wird also auch das Verhalten derer, die ehemals Unterschichten waren, mehr und mehr in eine Richtung gedrängt, die sich zunächst auf die abendländischen Obertschichten beschränkte. Es wächst im Verhältnis zu diesen ihre gesellschaftliche Stärke; aber es wächst auch das Training zur Langsicht, wer immer es zunächst leiten, wer immer dieser Langsicht die Denkmodelle geben mag; auch auf sie wirkt mehr und mehr jene Art von Fremdzwängen, die sich im Individuum zu Selbstzwängen umformt [...]

Norbert Elias
Über den Prozess der Zivilisation
stw 159 ( 1976) Bd.2 S.341

 

 

 

Verhalten trainieren

Ich hatte schon als Schüler gelernt, alleinstehen zu können. Ich bin nicht mutig, ich bin kein Held, ich habe niemals mein Leben riskiert, ich würde mich sehr hüten, es zu riskieren. Es müsste ein Äußerstes auf dem Spiel stehen, wenn ich es vielleicht täte. Aber etwas anderes habe ich von früh an verwirklicht: Prestige und Ansehen imponieren mir nicht. Ich nehme keine Rücksicht auf das, was man von mir denken mag. Was mir als das Rechte einleuchtet, sage ich und handle danach, sofern ich eine Aufgabe für mich darin sehe.

Karl Jaspers
Schicksal und Wille
zitiert nach: H. Horn (Hrsg.)
Karl Jaspers.
Was ist Erziehung?

Piper (1992) S.379

"Lernen lernen", das ist ein Schlagwort unserer Tage. Psychologen und Pädagogen veranstalten zu diesem Thema Kongresse, Politiker fordern in diesem Sinne ein sich selbst reformierendes Bildungssystem und die Wirtschaft wünscht sich Mitarbeiter, die sich möglichst selbständig und kostenfrei an veränderte Anforderungen anpassen. Was heißt das aber genau: das Lernen zu lernen?

Wenn man kleine Kinder beobachtet, dann wird einem rasch klar, dass sie von uns Erwachsenen übers Lernen sicherlich kaum was lernen können. Die ersten Schuljahre in deutschen Grundschulen sind eher ein eindrucksvolles Zeugnis dafür, wie man Lernen verlernen kann - vor allem die Freude am Lernen. Die vielfach von Pädagogen und Eltern beklagte Unfähigkeit der Kinder, selbständig lernen zu können, ist eigentlich keine unmittelbare Schwierigkeit mit der Selbststeuerung, sondern mit dem Stoff. Wie soll man bei so vielen stumpfsinnig zu wiederholenden Inhalten denn Spaß am Lernen haben?! Wenn man nicht kapiert, wozu man's braucht, dann motiviert weder das Lernen selbst noch sein Ergebnis. Gute Schüler sind in unserem Schulsystem solche, die frühzeitig einsehen, dass sie eben nicht fürs Leben, sondern für die Schule lernen. Nicht das Wissen ist wichtig - die Noten sind es. Deshalb ist eine erfolgreich übersprungene Schulklasse auch kein Zeichen für Intelligenz, sondern für ausgelassenen Schulstoff. Und das Abitur steht nicht für Bildung, sondern für den formalen Eintritt in die Universität.

Wenn es eine Kunst des Lernen-Lehrens gibt, dann die, Kindern die Zweiseitigkeit des Lernens zu vermitteln: zum einen die Freude am Wissen und Können, zum anderen die Einsicht in die Notwendigkeit guter Zeugnisse trotz zweifelhaften Unterrichts. Das ist auch die Kunst des Verhaltens: Sich den Anforderungen der Gesellschaft anzupassen, ohne eigene Vorstellungen und Interessen aufzugeben. In diesem Sinne kann man das Verhalten trainieren, wie man das Lernen lernen kann. Es geht darum, Dinge und Verhältnisse "im rechten Licht" zu sehen, d.h. in ihrer Bedeutung zu erfassen. Daher heißt das Programm von therapaed auch ganz deutlich Verhaltenstraining. Trainieren sollen beide Seiten: die Kinder und die Erwachsenen. Während die Kinder lernen müssen, dass ein bestimmtes Verhalten in der Gesellschaft bestimmte Konsequenzen zeitigt, müssen die Erwachsenen lernen, immer neu die Sprache ihres sich weiterentwickelnden Kindes zu sprechen, um ihm diese Konsequenzen begreifbar darzustellen. Das Verhältnis zwischen Kindern und Erwachsenen macht entscheidend den Erfolg dieses Bemühens aus.

 

* Indogermanisch: Eine rekonstruierte Sprache als Wurzel einer Vielzahl von indischen, iranischen, armenischen, griechischen, lateinischen, slawischen, baltischen, romanischen, keltischen und germanischen Sprachen, die zusammen die indogermanische Sprachfamilie bilden

 

 

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