| |
Hadrian's Wall, Grenze zwischen England und
Schottland. An dieser Stelle wurde die erste Begegnung Robin Hoods mit
den Schergen des Sheriffs von Nottingham (1990 mit Kevin Costner) verfilmt.
José M. de Vasconcelos
Wenn ich einmal groß bin
dtv (1972) S.32f. |
"Wenn ich einmal groß bin,
dann kaufe ich ein schönes Auto, wie das von Senhor Manuel Valadares. Von
dem Portugiesen, erinnerst du dich? Das, was an uns vorbeifuhr, als wir
mal am Bahnhof standen und dem Zug nach Mangaratiba nachwinkten ... So ein
schönes Auto werde ich kaufen und ganz vollgepackt mit Geschenken und
für dich allein ... Aber jetzt hör auf zu weinen. Ein König weint
nicht." [...]
Diesmal war es nicht der kleine Vogel in mir drin, der mir diese
Worte eingab. Es muss wohl mein Herz gewesen sein.
Ja, das ist es. Weil das Jesuskind mich nicht leiden mag. Es mag den
Ochsen und das Eselchen an der Krippe. Aber mich nicht. Es straft mich,
weil ich das Patenkind des Teufels bin. Wenn es meinem Bruder keine
Geschenke bringt, dann tut es das, weil es sich an mir rächen will. Aber
Luis hat das doch nicht verdient, denn er ist lieb wie ein Engel. Kein
Engel im Himmel kann lieber sein als er ...
Jetzt konnte auch ich die Tränen nicht mehr zurückhalten.
"Sesé, du weinst ja ..."
"Geht gleich vorbei. Ich bin ja auch kein König wie du. Ich
bin ein Ekel. Ein ganz böser Junge, ganz schrecklich böse ... Nichts
sonst." |
Wenn ich einmal groß bin ...
|
|
Sicher wollte ich auch mal
Lokführer werden. Oder einen großen Kran bedienen. Der erste
Berufswunsch aber, an den ich mich genau erinnern kann, war Atomphysiker.
Drunter tat ich's nicht... Es musste etwas Existenzielles sein, zumindest
Weltbewegendes. Ich kann mich sogar noch an eine Szene erinnern, als ich
diesen Berufswunsch kundtat: auf der Terrasse des Fachwerkhauses meines
Onkels. Tatsächlich war ich in der Schule in den Naturwissenschaften
meist nicht schlecht gewesen. Ob ich's jedoch ernst damit meinte, mag ich
rückblickend nicht mehr recht glauben.
Der zweite mir erinnerliche Wunsch hat dann mein Studium bestimmt - das
erste Studium. Schuld daran waren ein Lehrer und ein Buch. Das Buch
mehr als der Deutschlehrer, aber jener war die Voraussetzung dafür, dass
ich überhaupt erwägen konnte, Germanistik zu studieren. Denn in der 7.
und 8. Klasse des Gymnasiums schrieb ich zwar gerne Aufsätze, aber meine Diktatleistungen
waren desolat. In der 9. Klasse bekamen wir dann einen neuen Lehrer. Er
achtete weniger als seine Vorgängerin auf die Rechtschreibung - er mochte
meine Kreativität und die Unabhängigkeit im Denken. Als ich dann mit 16
das Buch las - Der Name des Rose - wusste ich, dass ich das
gleiche studieren wollte wie sein Autor Umberto Eco: Mediävistik.
|
|
Darüber schreiben - darüber sprechen
|
|
Nach Abitur und Bundeswehrzeit nahm
ich ein philologisches Studium auf: Germanistik (mit Schwerpunkt
mittelalterliche Sprache und Literatur), Geschichte und Philosophie. Künftig war mein Berufswunsch
Journalist. 1990 absolvierte ich ein mehrmonatiges Praktikum bei einer
Tageszeitung in Bonn. Danach schrieb ich zwar immer noch gern, aber
keinesfalls würde ich mich dem entwürdigenden Regime einer
Zeitungsredaktion unterwerfen. Ich hatte so viele Politikerempfänge besucht,
dass ich genau wusste, welcher Reporter welche Buffet-Angebote schätzte
und bei welchen Institutionen es den besten Schampus gab. Und diese
Erkenntnis war nicht etwa Beiwerk der ernsthaften journalistischen Praxis.
Nein, kostenloses Essen und Trinken waren der eigentliche zentrale
Gegenstand - Politiker und Verbandsvertreter musste man dafür leider
billigend in Kauf nehmen.
Da die Geschichte und Literatur des europäischen Mittelalters mit der
Religion fest verwoben ist, dachte ich eine Zeit lang darüber nach, zudem
Theologie zu studieren. Im Magisterstudium ist man allerdings frei,
sich aus einer großen Zahl an Fächern - auch weniger naheliegenden - ein
Nebenfach auszuwählen. Also besuchte ich u.a. ein Seminar zur
Entwicklungspsychologie. Es ging um Jean Piagets Vorstellungen zur
stufenweisen Ausbildung kognitiver Fähigkeiten. Danach reifte in mir die
Überlegung, Psychologie zu studieren. Ich erhielt einen
Studienplatz in München und seitens der Universität die Genehmigung zum
Doppelstudium. Obwohl ich den therapeutischen Aspekten des Studiums -
gerade jenen also, die für die meisten Menschen der Ingeriff der
Psychologie sind - zunächst wenig Interesse entgegenbrachte, rückten sie
zwangsläufig mehr und mehr in den Vordergrund. Vielleicht war es der
gleiche "existenzielle" Wunsch nach "Weltverständnis"
wie einst, als ich Atomphysiker werden wollte. Und das gleiche Bedürfnis,
die "Welt" zu erklären, die meine journalistischen Neigungen
beseelte. Jetzt ging es aber plötzlich nicht mehr um den Hinterhalt, das
Wirken aus der Distanz. Es galt, jenseits der fernen Sicherheit des
Schreibtisches, nicht zu schreiben, sondern mit den Menschen zu
sprechen. |
Der konkrete
kindliche Begriff des Lebewesens unterscheidet sich von dem des
erwachsenen Menschen. Das ist nicht verwunderlich, denn auch die
Vorstellung des Erwachsenen ist nicht konsistent immanenter Natur, sondern
ebenso transzendenter, insofern er - dem Kind gleich - Leben an
referentiellen Mustern misst. Dies lässt sich beispielsweise an
kritischen Punkten des Organismusbegriffes feststellen: Ausgehend von
höheren Lebensformen werden Einzeller meist als primitivste Lebensform,
also als Lebewesen begriffen; eine materialistisch-atomistische
Beschreibung der chemischen Vorgänge im Einzeller würde allerdings einer
Mehrzahl der Menschen die Feststellung abnötigen, noch die komplexesten
reaktiven Vorgänge seien determinierte Prozesse und kein Leben.
Proseminar Dr. Sodian
Wissensentwicklung
WS 1992/1993 |
Lake District (England) |
Die Logik des Lebens
|
In der Psychologie machte ich
konsequent zwei Bereiche zum zentralen Gegenstand des Studiums: die
Entwicklungspsychologie, die mir die Psychologie als Fach überhaupt erst
in den Sinn brachte, und die Familienpsychologie. Piaget hatte die meisten
seiner Erkenntnisse - oder zumindest die Idee zu weiteren Nachforschungen
- an seinen beiden Kindern gewonnen. Er beobachtete ihre Entwicklung sehr
intensiv und unternahm viele spielerische Experimente. Ich glaubte zu
verstehen, welch nie in seiner ganzen Tiefe auslotbarer Schatz in den eigenen familiären
Erfahrungen liegt. Später habe ich eine Vielzahl an psychologischen
Testverfahren an mir selbst ausprobiert, denn die Ehrlichkeit gegenüber
einem selbst ist in der Beobachtung rein psychischer Phänomene die einzig
prüfbare Quelle persönlicher Gewissheit. |
|
|
|
Bereits im Studium, als ich für
diverse DFG-Projekte und nebenbei für das Jugendamt jobbte, habe ich
erlebt, wie schwierig der Umgang mit der eigenen Geschichte ist. Sie ist
nämlich kein fester Gegenstand, auf den man in immer gleiche Weise
zugreifen kann. Vielmehr verändert sie sich beständig, gerade auch, wenn
wir uns das Ziel setzen, sie durch die Beschäftigung mit ihr
festzuhalten. Unser Kopf beherrscht nämlich nur eine Form der Logik. Ich
kann mich an meine Gedanken als Kind erinnern, zumindest an manche. Aber
ich kann sie nicht mehr denken wie ein Kind. Der Mensch kann seine
Gedanken verdrängen und vergessen, aber im eigentlichen Sinne belügen
kann er sich nicht. Denn sobald er die Lüge als solche reflektiert, muss
er um die andere Wahrheit wissen. Also gewinnt das Denken und Fühlen als
Kind rückblickend eine andere Bedeutung. Ich habe viele Familien - Eltern
und Kinder - gesehen, die unendlich enttäuscht von ihrem Leben waren. Wo
aber ihr Leben einmal war, konnten sie mir nur noch die Wut und
Verzweiflung zeigen. Alle Erfahrungen hatten in der Logik der
Enttäuschung eine neue Gestalt angenommen. Und mein Denken machte noch
einmal eine andere Geschichte daraus. |
Du bist ein
Kind. Sag mir, was du von der Kindheit gesehen hast! Sag! Unter vielen
Stimmen habe ich deine vernommen, nackt, keuchend wie eine kaputte Lunge,
aus deren Risse Äxte und Sicheln hervorsprudeln. Ach, mein Kind ach! Wie
oft hast du der Geschichte von deinem kleinen Herzen erzählt [...].
Salim Barakat
Der eiserne Grashüpfer
Lenos (1995) S.10 |
Noch einmal das Kind erleben können
|
|
Für einen Erzieher oder Therapeuten
ist sein Beruf ein Soldatenjob und seine Geschichte ein Minenfeld. Er ist
so etwas wie der Gruppenführer einer Vorhut der Gesellschaft. Wenn er
sich und die Kinder gut durch das Minenfeld bringt, bilden sie den Kern
der Truppe von morgen. Das klingt jetzt vielleicht ein bisschen arg
militärisch, ist aber wahr und wahrhaftig ein gefährlicher Job.
Das verraten nicht nur die Therapeuten, wenn sie in Supervision über ihre
"Fälle" sprechen, sondern auch so trockene Dokumente wie
beispielsweise Statistiken über Heimunterbringungen. Experten erfahren da
mehr über die Verfassung der Mitarbeiter von Ämtern und Einrichtungen
als über die betroffenen Kinder und Jugendlichen. Unsere Geschichte ist
nämlich die Projektionsfläche, auf der wir den Alltag begreifen. Und
nachdem unser Wissen vom anderen oft bescheiden ist, werden im Licht
fremder Erzählungen die Konturen der eigenen Geschichte desto schärfer
erkennbar. Nachdem ich fast zwei Jahre auf verschiedenen Stationen einer
kinder- und jugendpsychiatrischen Klinik gearbeitet hatte, steckte ich in
der Zwickmühle. Ich liebte die Arbeit mit den jungen
"Patienten", aber ich hasste die Institution. Die
Professionalität eines Klinikbetriebes ist das leibhaftig Erwachsene, die
perfekteste Form des Triumphes der Erwachsenen über die Welt der Kinder. Wenn
man als Kind oder Jugendlicher, ob gewollt oder als Folge einer Krankheit,
endlich jede Grenze des Verhaltens überschritten hatte, das die
Gesellschaft noch zu tolerieren bereit war, fand man sich doch wieder in
ihr. Man begegnete gerade nicht der offensichtlichen Gewalt, die den
Respekt und die Liebe der Erwachsenen glaubhaft machen würde, sondern nur
einem neuen billigen Verständnis. Die Kinder konnten tun, was sie
wollten, doch es gelang ihnen wieder nicht, Liebe oder Hass der
Erwachsenen zu provozieren, sondern nur das distanzierte Verständnis der
Therapeuten. Ich hatte keine bessere Idee, wie man eine solche Klinik
führen sollte. Aber ich sah, dass diese "Behandlung" vielen
Kindern und Jugendlichen keine Hilfe war. Die Patienten lebten ihr
Kindsein in unerträglicher Konsequenz aus. Und wir erwachsenen Ärzte,
Psychologen und Betreuer hatten vor nichts mehr Angst als davor, noch
einmal das Kind in uns zu erleben. |
|
Nie wieder Angst haben!
Seit ich denken kann, verfolgt mich ein Traum: Ich
rufe, und niemand hört mich.
Was gäbe ich darum, noch einmal das Kind zu sein,
dem die Liebe der Mutter gehört.
Ich warte, doch die alte Zeit will nicht
wiederkommen.
Joshua Cyriac (1989)
Nie wieder Angst
|
Aus Erfahrungen lernen
|
Lindisfarn Castle (Northumberland - England) |
Aus Erfahrung wird man klug! Das
Sprichwort sagt das mit einer leichten Häme. Als ob nur jene schmerzhafte
Erfahrungen machen müssen, die nicht vernünftig genug sind, von
vornherein die richtigen Entscheidungen zu treffen. Dabei bekräftigt der
Satz auch in einem positiven Sinne die Bedeutung der Erfahrung. Sie ist
als Geschichte eben nicht nur besagte Projektionsfläche unseres
Verstandes, sondern zugleich ein gutes Lehrmittel. Die Erfahrung hat an
sich das, was den meisten Psychotherapien abgeht: subjektive
Bedeutsamkeit. Unser Gedächtnis funktioniert über die
gefühlsmäßige Wichtigkeit eines Eindruckes - Freude, Trauer und Wut
sind die Karteikarten in der Bibliothek unserer Erinnerungen. Die meisten
Therapeuten kommen in ihren Behandlungen überhaupt nicht zu dem Punkt, an
dem das Terrain für den Patienten gefährlich und damit auch wichtig
wird. Sie sind viel zu sehr mit den eigenen Minenfeldern beschäftigt -
mit ihren eigenen schmerzhaften Erinnerungen, durch die sie einen sicheren
Weg gefunden zu haben glauben, den sie jetzt ängstlich stets wieder und
wieder gehen. Was ich während der Klinikzeit als Mangel erlebte, gab ich mir nach
dem Abschied als Aufgabe: Wie muss Therapie aussehen, dass sie
subjektive Bedeutsamkeit für den Patienten hat? Und mit Therapie meine
ich nicht das "professionelle" therapeutische Verhältnis,
welches einen unnahbaren Helfer und einen leidenden Hilfesuchenden kennt,
der als Offenbarungseid schuldbewusst auf seine Wunden zeigt. Ich hatte es
ja gerade mit jenen Patienten zu tun gehabt, die von sich aus meist nicht
um Hilfe nachsuchten, weil sie "ihr" Problem nicht in gleicher
Weise sahen und verstanden wie ihre Umwelt: mit Kindern. Außerdem besteht
zwischen der Behandlung einer Störung des Sozialverhaltens, dem
Anerziehen guter Essmanieren und der Vorbereitung auf eine Matheprobe kein
Unterschied. In allen Fällen geht es um Lernen. Und nicht um Lernen als
Selbstbefriedigung, sondern um das anstrengende Einüben fremder,
zunächst ungeliebter Verhaltensweisen und Wissensbestände. Wenn aber
Kinder unter normalen Umständen die Benutzung von Messer und Gabel oder
einer Formelsammlung erlernen können, warum dann nicht auch Rücksicht,
Warten oder Ehrlichkeit? |
Aufmerksamkeit und Vertrauen
|
|
Tyne Bridge und Swing Bridge
in Newcastle (England) |
Eltern sind für ihre
neugeborenen Kinder von Geburt an Experten. Das heißt nicht, dass sie
automatisch über "Kulturtechniken" der Kinderpflege wie Windeln
wechseln oder Kindermedizin Bescheid wissen. Aber sie kommunizieren
beispielsweise in einer Art mit dem Säugling, die seinen und nicht den
Gewohnheiten der Erwachsenen entspricht: mittels bestimmten Lauten und
Berührungen. Sobald das Kleinkind jedoch den Gebrauch der Sprache in
ihren Grundzügen beherrscht, verliert sich das Entgegenkommen rasch.
Die Fähigkeit zu sprechen erscheint uns als Beleg der
Gesellschaftsfähigkeit überhaupt. Ab jetzt zählen mehr und mehr die
Regeln der Gemeinschaft, die wir ihren neuen Mitgliedern nur in Worten
vermitteln können. Eltern ermahnen, loben und trösten ihre Kinder nun
vor allem durch Sprechen. Ob dies den Lernfähigkeiten von Kindern
genügt, ist fraglich.
|
Wir schnitten
Stahlplatten aus. Sie kamen vorgefertigt, zweimal anderthalb Meter und
fünfundzwanzig Millimeter dick, wir schnitten sie mit einer großen
Schleifscheibe am Winkeltrennschleifer, so dass die Schutzkappe nicht
darauf sein konnte, über den Armen stand ein Funkenregen. Eines Tages
hatte ich meine Handschuhe ausgezogen und die Ärmel des Blaumanns
hochgekrempelt und angefangen, mit nackten Armen zu schneiden. Die
Eisenfeilspäne brannten eine schwarze Schlange bis hinauf zum Ellenbogen,
das verbrannte Fleisch stank, ich spürte zunächst nichts. Ich wusste
nichts von mir selbst, eine andere Person in mir hatte die Oberhand
gewonnen. Um mich die Gefühllosigkeit spüren zu lassen, die sich über
mich gelegt hatte.
Peter Hoeg
Der Plan von der
Abschaffung des Dunkels
Hanser (1995) S.275f.
|
Sicher ist es nicht nur die
Täuschung durch die Sprache, dass wir Erwachsenen glauben, unsere Kinder
verstünden uns allein durch Worte - und dass sie sich allein durch Worte
verständlich machen könnten. Das Vertrauen in die Sprache hat
diese allerdings auch zum dominanten Psychotherapie-Medium werden lassen.
Selbst Spiel-, Bewegungs- oder Ergotherapie funktionieren über das
Sprechen, wenn es nicht eben nur um das Spielen, Bewegen oder die Motorik
geht. In einer familientherapeutischen Sitzung, deren Zeuge ich einmal
war, ließ der Therapeut einen Vater seinen 12 Jahre alten aggressiven
Sohn an der Hand festhalten, während der Junge von ihm weg zog. In dieser
Familie herrschte weder Gewalt noch Regellosigkeit. Das Kind hatte aber
vergessen, wie Zuneigung sich anfühlt - gehalten werden. Monate
später, als ich dem Jungen zufällig auf der Straße begegnete, sprang er
auf mich und klammerte sich wie ein Affe um Hals und Hüfte. Festhalten
als Therapie ist Unsinn. Aber spürbar, mit allen Sinnen erfahrbar zu sein
ist wichtig für Kinder. Weil es wichtig für das Lernen ist. |
Wollte ich nach der Klinikarbeit wiederum eine psychotherapeutische
oder edukative Aufgabe übernehmen, so sollte sie dieses (be)greifbare
Erfahren zum Gegenstand haben. Ich mochte nicht wieder in einem System
arbeiten, in dem alle Ressourcen verteilt waren und der Selbstschutz die
Aufgabe beherrschte. Zudem war und ist mir nicht einsichtig, inwiefern die
berufliche Qualifikation als Psychologe, Psychiater, Erzieher oder Lehrer
einen ihr automatisch innewohnenden Kompetenzvorsprung gegenüber den
erzieherischen Fähigkeiten von Eltern bedeuten soll. Und jenseits des
Wissens über psychische Störungen, Entwicklungspsychologie oder Didaktik
des Mathematikunterrichts gibt es auch keinen Unterschied! Unser aller
Erfolg im Umgang mit Kindern hängt davon ab, ihre Aufmerksamkeit und ihr
Vertrauen zu gewinnen. Und unsere Aufmerksamkeit für das Leben der
Kinder zu schärfen, unser Vertrauen in sie zum Ausdruck zu bringen. Eine
neue Form der "Therapie" für Kinder sollte nicht allein sie
"behandeln", sondern die Menschen in ihrer Umwelt befähigen,
mehr auf die natürlichen Gewohnheiten der Kinder einzugehen. Lernen, egal
ob Rechtschreibung oder Spielregeln, ist ein Wesenszug des Menschen. Dass
wir ihn in seiner Bewusstheit zur Qual gemacht haben, ist das größte
Versagen unserer Gesellschaft. |
|
Welche Ziele denn nun eigentlich ?
|
|
Im Grunde ist es viel einfacher,
angestellt zu sein, gerade auch in meinem Job. In einer Klinik oder
Beratungsstelle kommen und gehen die Patienten. Vor allem das Gehen ist
wichtig ... Nicht nur, weil Hilfe suchende Menschen oft im Kontakt sehr
bedürftig sind und jedweder Zuwendung nicht satt werden können. In einer
Klinik zu sein oder beraten zu werden sind ja keine Lebensweisen. Auch
die Therapeuten sind meist froh, wenn die Patienten wieder gehen. Es
ist dem Gefühl eines Spielers im Casino vergleichbar: Wenn er geht und es
lief gut, ist er zufrieden, seinen Gewinn mitgenommen zu haben; lief's
schlecht, hat er zum Glück nicht mehr verloren; - und in jedem Fall ist
er der Versuchung enthoben, es nochmals, noch länger, noch intensiver zu
versuchen. Wenn man selbständig ist, kann man den "Gegenstand"
der Arbeit nicht einfach auswechseln. Immerhin hat man ihn für sich
ausgewählt. Am Abend verlässt man das Casino nicht mit einem
garantierten Gewinn samt Sozialleistungen. Es ist mein Casino. Bleibe ich
nicht, spielt niemand mehr. Zum ersten Mal "kämpfe" ich mit
eigenem Einsatz um die Aufmerksamkeit und das Vertrauen anderer. Ich
riskiere Zeit, Geld - und was viel mehr ist: die Niederlage meiner Idee
von einer anderen Arbeit als Psychologe oder Therapeut.
Ich glaube aber an die Idee von therapaed.
Ich glaube, dass es möglich ist, die Aufmerksamkeit von Erwachsenen auf
ihre Kinder zu lenken. Nicht eine mechanische Aufmerksamkeit, die
im 25. bunten Elternratgeber nach Symptomen einer diagnostizierbaren
Störung sucht, sondern eine Empfindsamkeit für die Welt der Kinder. Ich
glaube, dass eine Mutter lernen kann, das Verhalten ihres ungebärdigen
Sohnes zu verstehen und damit zu beeinflussen. Ich glaube, dass ein Vater
seine Kinder ins Bett bringen kann, ohne zuvor einen Kursus "Wie mein
Kind gerne schläft" zu besuchen. Ich glaube, dass die meisten Lehrer
ihre Arbeit lieben und aus Überzeugung tun, auch wenn sie oft nicht
wissen, wie man den Respekt von 30 verwöhnten Einzelkindern gewinnt. Ich
glaube, dass Deutschland ein kinderfreundliches Land ist, wenn uns
freundliche Kinder begegnen. Ich glaube, dass die meisten Erwachsenen
über alles verfügen, was sie zum Umgang mit Kindern brauchen: eine natürliche
Zuneigung, Verantwortungsbewusstsein, Erwartungen. Kinder tragen so
viele Hoffnungen und Kräfte in sich, aus denen auch unsere verblassten
Wünsche einmal erwachsen sind. Ich glaube an die gemeinsamen Träume von
Familien, von Gemeinschaften und Gesellschaften. Nicht, dass all diese
Träume stets erfüllbar sind. Aber dass wir unseren Zielen näher kommen
können, wenn sie uns nur vor Augen stehen. Mein Ziel ist es, Ihre Welt,
die Welt Ihrer Kinder, ein bisschen greifbarer zu machen. Denn Ihre Ziele
zählen! |
Eine
Mutter, die in ihrem Kinde den Sinn ihres eigenen Lebens finden will, ein
Vater, der in seinem Sohne nur seine Fortsetzung, seine Erweiterung sieht,
Eltern, die in dem Kinde die Bestätigung ihrer eigenen Größe suchen
(den ewig dankbaren Lobpreiser und Sklaven), Erzieher, für die Zöglinge
nichts anderes als ein Material sind, sozusagen Ton in des Töpfers Hand,
Erzieher, die jede Niederlage in ihrem Erwachsenenleben an den Kindern rächen
- sie alle sind, ob sie es nun wissen oder nicht, Verderber einer
Generation, die ebenso schlechte Erzieher hervorbringen muss, wie sie es
selbst sind.
Manès
Sperber
Individuum und Gesellschaft (1934)
dtv (1987) S.320
|
Johannes Streif |
|
|