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Verhaltenstraining
Dr. Johannes Streif

 

 

 

 




 

impulsiv
hyperaktiv

 

Mit dem Begriff der Aufmerksamkeitsdefizitstörung (mit oder ohne Hyperaktivität) ist die Unaufmerksamkeit nicht nur dem Namen nach, sondern in den Augen v.a. vieler betroffener Erwachsener auch inhaltlich zum Leitsymptom der - im DSM ehemaligen, in der ICD nochbestehenden - Hyperkinetischen Störung geworden. Eine wichtige Rolle mag dabei nicht zuletzt die subjektive Qualität der Aufmerksamkeit gespielt haben, die nicht in gleichem Maße wie Impulsivität oder Hyperaktivität von Außenstehenden beobachtet und bewertet werden kann. Während wir nämlich an Kindern die äußere Einschätzung ihrer psychischen Verfassung durch eine medizinische Diagnose akzeptieren, ziehen wir es als Erwachsene vor, das Urteil über unsere Befindlichkeit selbst zu fällen. Daher wurde die wachsende Bedeutung der Aufmerksamkeitsdefizitstörung in den vergangenen Jahren durch die allgemein breitere öffentliche Auseinandersetzung mit psychischen Auffälligkeiten in besonderem Maße befördert. Probleme mit der im Zeitalter von Maschinen und Computern immer wichtigeren passiven Aufmerksamkeit für zu kontrollierende Prozesse sowie eine zunehmende Zahl an Menschen, die der Anforderung lebenslangen Lernens nicht gewachsen sind, finden heute im Postulat fundamental gestörter Aufmerksamkeit eine entlastende Erklärung. Und dies, obwohl die Ursachen von Unaufmerksamkeit vielfältig und jenseits der Hyperkinetischen Störung häufig nicht klar zu bestimmen sind. 

In diesem Sinne ist für zukünftige Revisionen der gebräuchlichen Diagnoseschemata ICD und DSM im Fall der Aufmerksamkeit die umfangreichste Veränderung der bisherigen Diagnosekriterien zu erwarten. Augenblicklich verzeichnen beide Diagnosemanuale 9 Symptombeschreibungen, die zur Symptomgruppe einer Störung der Aufmerksamkeit gerechnet werden.

 

aufmerksam =
sehend, hörend seine geistige Aufnahmefähigkeit bereitwillig auf etwas richten

unaufmerksam
nicht aufmerksam; im Unterricht unaufmerksam sein; ein unaufmerksamer Schüler

Duden Deutsches Universalwörterbuch (1989) S.160 u. S.1596

Die/der Betroffene ...
1 beachtet häufig Einzelheiten nicht oder macht Flüchtigkeitsfehler bei den Schularbeiten, bei der Arbeit oder bei anderen Tätigkeiten
2 hat oft Schwierigkeiten, längere Zeit die Aufmerksamkeit bei Aufgaben oder bei Spielen aufrecht zu erhalten
3 scheint oft nicht zuzuhören, wenn andere sie/ihn ansprechen
4 kann oft Erklärungen nicht folgen oder Schularbeiten, Aufgaben oder Pflichten am Arbeitsplatz nicht erfüllen (nicht wegen oppositionellem Verhalten oder weil die Erklärungen nicht verstanden werden)
5 hat häufig Schwierigkeiten, Aufgaben und Aktivitäten zu organisieren
6 vermeidet häufig, hat eine Abneigung gegen oder beschäftigt sich häufig nur widerwillig mit Aufgaben, die längerandauernde geistige Anstrengung erfordern (z.B. in der Schule oder bei den Hausaufgaben)
7 verliert häufig Gegenstände, die sie/er für bestimmte Aufgaben oder Aktivitäten benötigt (z.B. Spielsachen, Hausaufgabenhefte, Stifte, Bücher oder Werkzeuge)
8 ist häufig durch äußere Reize leicht ablenkbar
9 ist bei Alltagstätigkeiten häufig vergesslich
 

 

Sowohl in der ICD-10 als auch im DSM-IV müssen zumindest 6 der 9 Symptombeispiele bejaht werden und die Symptome über einen Zeitraum von mehr als 6 Monaten zu beobachten sein, damit die Diagnose einer Hyperkinetischen Störung (ICD-10) bzw. einer Aufmerksamkeitsdefizitstörung (mit oder ohne Hyperaktivität; DSM-IV) gestellt werden kann. Als symptomatisch gelten dabei nur solche Auffälligkeiten, die ein für den Stand der Entwicklung ungewöhnliches Ausmaß erreichen. 

Das DSM-IV erlaubt es, sich zur Diagnose der Aufmerksamkeitsdefizit/ Hyperaktivitätsstörung entweder auf die Symptomgruppe der Aufmerksamkeitsdefizite einerseits oder der Impulsivität und Hyperaktivität andererseits zu beschränken. Die Diagnose einer reinen Aufmerksamkeitsstörung ohne Hyperaktivität ist im Rahmen der Hyperkinetischen Störung der ICD-10 (Kategorie F.90) nicht möglich. Für sie sieht die ICD eine Restkategorie (F98.8) vor, deren Zusammensetzung mit recht unterschiedlichen Symptomen wie Nägelkauen, Nasebohren, Daumenlutschen und Masturbation deutlich macht, dass die Weltgesundheitsorganisation (WHO) als Herausgeber der ICD in einer isolierten Aufmerksamkeitsstörung derzeit keine als eigenständige Störung greifbare Einheit erkennt. Darüber hinaus kennt die ICD-10 eine weitere nicht eingehender erläuterte Kategorie sonstiger hyperkinetischer Störungen (F90.8) sowie eine Restkategorie nicht näher bezeichnete hyperkinetische Störungen, die für Fälle reserviert ist, in denen nicht klar zwischen einer einfachen Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung (F.90.0) bzw. einer Hyperkinetischen Störung des Sozialverhaltens (F.90.1) unterschieden werden kann.

 

Vier Wochen hatte ich nicht zur Schule gehen müssen, doch schon die ersten Tage nach den Ferien waren ein Trauerspiel. Wie immer hatte ich das neue Schuljahr mit den allerbesten Vorsätzen begonnen und mir vorgenommen, mich gut zu benehmen, meine Hausaufgaben zu machen, pünktlich zum Unterricht zur erscheinen und bis zum Ende der Stunde zu bleiben. [...]

Ich gab mir Mühe. Ehrlich. Ich ging zur Schule und nicht mehr ins Büro der Doors. Ich las, was man uns zum Lesen aufgab, machte meine Hausaufgaben, und jede einzelne Sekunde davon war mir zuwider. »Dein größtes Problem ist deine Einstellung«, sagte mir meine Lehrer, und sie hatten recht. Aber ich ging Tag für Tag zur Schule. Ich war brav und fühle mich hundeelend.

Danny Sugerman
Wonderland Avenue
Maroverlag (1991) S.85ff.

Beide Manuale verlangen für eine gültige Diagnose zudem, dass einige Symptome in zwei oder mehr Kontexten auftreten (z.B. zuhause und in der Schule), d.h. nicht an eine bestimmte soziale Situation gebunden sind. Darüber hinaus müssen sie eine merkliche Beeinträchtigung der sozialen, schulischen oder beruflichen Funktionsfähigkeit bzw. ein Leiden daran begründen. Zuletzt müssen die Symptome einen eigenständigen Krankheitswert besitzen, dürfen also nicht Folge anderer psychischer oder körperlicher Erkrankungen sein.

 

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