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Verhaltenstraining
Dr. Johannes Streif

 

 

 

 




 

 

impulsiv
hyperaktiv
unaufmerksam

 

Neben den klassischen drei Symptomgruppen der Kernsymptomatik - Impulsivität, Hyperaktivität, Aufmerksamkeitsstörung - hat der amerikanische Neuropsychiater Russel A. Barkley in seinem Buch ADHD and the Nature of Self-control (1997) vier zentrale Bereiche kognitiver Beeinträchtigungen beschrieben, in welchen seinen Forschungen zufolge die Hyperkinetische Störung zu Auffälligkeiten führe. (1) Da Barkley die dargelegte Symptomatik in ihrer Einheit auf eine Störung der Exekutiven Funktionen im präfrontalen Cortex zurückführt, hat er für die gebräuchlichen Begriffe Hyperkinetische Störung (HKS) und Aufmerksamkeitsdefizit- / Hyperaktivitätsstörung (ADHS) den Namen Behavior Inhibition Disorder - Störung der Verhaltenshemmung - vorgeschlagen. Entscheidend ist demnach die Schwierigkeit der von der Störung betroffenen Menschen, ihr Verhalten angemessen und an die Umwelt angepasst zu regulieren. Hyperaktivität und Aufmerksamkeitsdefizite sind in diesem Konzept weniger die Kernsymptome als vielmehr die Folge der eigentlichen Beeinträchtigung: einer ungenügenden Kontrolle der Impulse.

 

Not only is there a overwhelming evidence thqt ADHD involves a deficit in behavioral inhibition, but there is also suggestive evidence from developmental psychology of the inverse relationship. Early deficits in behavioral inhibition appear to be associated with increased risks for later symptoms of ADHD.

Russel A. Barkley
ADHD and the Nature of Self-Control (1) S.82

Beeinträchtigungen der Selbstregulation nach Barkley:
1 Nonverbales Arbeitsgedächtnis: Die Beeinträchtigung des nonverbalen Arbeitsgedächtnisses hat zur Folge, dass das Zeitgefühl vermindert ist (u.a. Zuspätkommen, ungenügende Zeitplanung), die Betroffenen häufig stark vergesslich sind sowie über eine eingeschränkte Fähigkeit zur Retrospektive (rückblickende zeitliche Ordnung von Geschehen) und Zukunftsplanung (vorausschauende zeitliche Ordnung von erwarteten Abläufen) verfügen.   Defizite in:
- Zeitgefühl
- Zeitplanung
- Kurzzeitgedächtnis
- Retrospektive
- Zukunftsplanung
2 Internalisierung selbstgerichteter Rede: Die Internalisierung, d.h. die Verinnerlichung von Selbstgesprächen, mit welchen das eigene Verhalten durch Bewusstmachung von Regeln und Anforderungen gesteuert wird, gelingt nur schwer. Normalerweise können bereits Kleinkinder ihr Handeln über innere "Monologe" steuern, in denen sie gelernte Strukturen des eigenen Verhaltens wiederholen (z.B. "Erst die Schuhe ausziehen, dann in die Wohnung gehen!"). Eine mangelnde Internalisierung von an sich selbst gerichteter Rede hat über das Handeln hinaus auch direkten Einfluss auf das Denken und die Konzentrationsfähigkeit.   Defizite in:
- Selbststrukturierung
- Verhaltenssteuerung
- Ordnung von
  erlernten Abläufen
- Konzentration
3 Selbstregulation von Stimmung, Motivation und Erregung: Die bewusste Steuerung des emotionalen Empfindens und Ausdrucks ist bei betroffenen Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen gestört. Konsequenz ist ein hohes Maß an Offenheit und Unbeherrschtheit, mangelndes Vermögen zur Selbstmotivation v.a. bei ungeliebten Tätigkeiten sowie eine beeinträchtigte Erregungskontrolle, was zu häufigen und unverhältnismäßig heftigen Wutausbrüchen führt.   Defizite in:
- Selbstmotivation
- Willentliche Steuerung
  der eigenen Stimmung
- Erregungskontrolle
4 Rekonstitutionsfähigkeit: Die Fähigkeit zur Analyse von Formen und Prozessen ist merklich beeinträchtigt. Ebenso gelingt die Rekombination, d.h. das Zusammenführen von Einzelteilen zu einer neuen Gestalt nur schwer. Von der Störung betroffene Personen können daher beobachtete Handlungen nur unzureichend selbständig zergliedern und zu neuen, noch unerprobten Verhaltensweisen zusammenfügen.   Defizite in:
- Neuordnung von
  Aufgaben(teilen)
- Lernen insgesamt
 

 

Die von Barkley genannten Symptome sind nicht Bestandteil der Kernsymptomatik, wie ICD-10 und DSM-IV sie auflisten. Dennoch beschreiben sie die Hyperkinetische Störung in einer Weise, die - verfügt man über die geeigneten Testverfahren - jenseits der sozial vermittelten Verhaltensweisen das biologische Fundament der Verhaltensstörung diagnostisch greifbar macht (vgl. Diagnose). Insofern nimmt Barkley die Konsequenzen aus seinem Modell natürlicher, d.h. weitenteils genetisch bedingter Einschränkungen der Selbstregulation und des Lernens sehr ernst.

Wie ich bereits sagte, ist der genetisch festgelegte Anteil an den Symptomen des ADHD dem vergleichbar, der die Körpergröße eines Menschen bestimmt (ungefähr 80%). Wenn wir uns aber dies ins Bewusstsein rufen, so wird uns klar, wie unsinnig es ist, moralische Urteile über den Wert oder Charakter oder die Eltern jener Menschen zu fällen, die kleiner sind als wir. Aber sollte es uns dann nicht eben gleich unsinnig anmuten, moralische Urteile über den Wert, Charakter oder die Eltern jener Menschen zu fällen, welche mehr Symptome des ADHD zeigen oder über weniger Selbstkontrolle verfügen als wir?

Diese Überlegung führt uns zu einer genauso interessanten wie provokativen Schlussfolgerung. Sind wir nämlich nicht dazu aufgerufen, jene mit ADHD oder weniger Selbstkontrolle dafür bloßzustellen, dass ihnen die Selbstregulation nicht gelingt – ist es dann recht, jene zu loben, die über eine außerordentlich gute Selbstkontrolle verfügen und daher große gesellschaftliche Achtung erfahren? Und macht es Sinn, Eltern für Leistungen ihrer Kinder zu würdigen, die vielmehr einer solch außergewöhnlichen Selbstkontrolle entspringen?! Wenn die Eltern von Kindern mit ADHD nicht für den kindlichen Mangel an Selbstkontrolle zu verurteilen sind, so benötigen die Eltern von Kindern mit besonderer Selbstkontrolle auch nicht so sehr unsere Bewunderung. Und als eine Konsequenz dieser Perspektive: Stünde uns nicht ein bisschen mehr Bescheidenheit an im Urteil über den Lebenserfolg eines Menschen oder dem seiner Kinder, der doch auch eine Folge ererbter außergewöhnlicher Selbstkontrolle ist?

Russell A. Barkley (1) S.319
ADHD and the Nature of Self-control
Übersetzung: J. Streif

 

Es gab Zeugnisse, und dazu musste ich nicht nur in die Schule gehen, sondern auch die Schmach ertragen, mit dem Formular die Lehrer einzeln abzuklappern, damit sie ihre Noten eintragen und unterschreiben konnten. Schließlich musste ich die Hiobsbotschaft mit nach Hause nehmen und meinen Eltern zeigen. [...]

»Was ist, wenn ich das einfach nicht unterschreibe?« fragte meine Mutter mich.
»Ich weiß nicht. Werde ich dann von der Polizei abgeholt?«
»Mach keine Witze«, sagte sie.
»Ach komm, Mom, so schlimm ist das doch gar nicht. Immerhin bin ich nicht durchgerasselt, schließlich habe ich die neunte Klasse bestanden.«
»Das ist schlimm«, widersprach sie ganz traurig. »Ich glaube, dir ist gar nicht klar, wie schlimm das ist.«

Danny Sugerman
Wonderland Avenue
Maroverlag (1991) S.94

impulsiv
hyperaktiv
unaufmerksam
 

Literaturangaben zu Russell A. Barkley

(1) Barkley, R.A. (1997). ADHD and the Nature of Self-control. New York: Guilford Press  

 

(2) Zusammenfassung auf Deutsch in:
Barkley, R.A. (1999). Hyperaktive Kinder. In: Spektrum der Wissenschaft 3, S.30-36
(3) Barkley, R.A. (2000). Taking Charge of ADHD. The Complete, Authoritative Guide for Parents. New York: The Guilford Press.
(4) Übertragung ins Deutsche:
Barkley, R.A. (2002). Das große ADHD-Handbuch für Eltern. Göttingen: H. Huber

 

 

 

 

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